Aufklärung und Religion - ein strittiges Verhältnis

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Humanität war der Grund der Aufklärung. Sie bleibt der Grundgedanke, der heute auch alle Weltreligionen begleiten und ihr negatives Potenzial kontrollieren soll.

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Humanität war der Grund der Aufklärung. Sie bleibt der Grundgedanke, der heute auch alle Weltreligionen begleiten und ihr negatives Potenzial kontrollieren soll.

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Jüdische Selbstaufklärung: "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde". Über diesen Anfangssatz der Hebräischen Bibel dachten Generationen von jüdischen Gelehrten nach und fragten etwa, was Gott zuerst schuf, Himmel oder Erde oder doch beide zugleich. Für jede Auffassung fand man Argumente und Beispiele aus dem Alltag und der religiösen Überlieferung. Und weil mit diesem Satz die Heilige Schrift als heilige Buchstabenkomposition beginnt, wandte man sich auch den Buchstaben zu und zählte sie: 28 Buchstaben bilden den ersten Satz der Heiligen Schrift, darin ist die Zahl 7 viermal enthalten. Das hat Bedeutung, wenn man weiß, dass dieses Lied auf die Schöpfung mit dem Schabbat endet, mit dem 7. Tag der Ruhe.

Jüdische Selbstaufklärung

In solchem Nachdenken geschieht Aufklärung einer religiösen Gemeinschaft über sich selbst. Aufklärung bedeutet dabei nicht nur, dass man die eigenen Grundlagen klärt, sondern Aufklärung bedeutet auch, dass durch sie die eigenen Grundlagen gewandelt werden. Denn werden neue Sinnzusammenhänge entdeckt, dann ändert sich das ganze Gefüge. Das kann man an der langen Geschichte des Judentums erkennen. Viele Katastrophen hat das Judentum erlitten, von der Zerstörung Israels im Jahr 722 v. Chr. bis zur Schoa des 20. Jhdts. Doch nach jeder Katastrophe erstand Israel wieder und musste neu nach seinen Grundlagen fragen oder neue Grundlagen suchen, weil die überkommenen verloren waren. So kann man die gesamte Überlieferung des Judentums als einen ständigen Prozess der Selbstaufklärung lesen, in dem es sehr früh schon zu einer bemerkenswerten Einsicht gekommen ist, die dem nachfolgenden Christentum und dem Islam mitunter bis heute fremd sind: Die Rettung oder auch die Güte der Menschen, die nicht zum Judentum gehören, hängt überhaupt nicht daran, dass sie Juden werden, ja sie müssen nicht einmal an den Schöpfer glauben. Es genügt, wenn sie Gerechtigkeit üben, keine Gotteslästerung und keine Verbrechen begehen.

Christliche Absolutheitsansprüche

Was im antiken Judentum formuliert wurde, zeigt ein hohes Maß an Toleranz anderen gegenüber. Im Abendland stand es damit bis in die Neuzeit schlecht. Als im Rahmen der Konfessionalisierung des Christentums offenbar wurde, dass keine gesellschaftliche Existenz ohne eine bestimmte religiöse Zugehörigkeit und damit ohne religiösen Zwang möglich war, hob gegen solche Absolutheitsansprüche im 18. Jhdt. die historische Aufklärung an. In den folgenden politischen Revolutionen sollte sich ihr Anspruch auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklichen, doch diese Revolutionen zogen immer auch Repressionen hinter sich her. Monarchien wiederum versuchten sich im Neoabsolutismus, der jedoch bald durch demokratische Zugeständnisse gemildert werden musste.

Auch das katholische Christentum reagierte darauf und bestätigte seine weithin antiaufklärerische Haltung in verschiedenen Dokumenten, die eine lange Reihe von Verurteilungen von aufklärungsnahen Theologen und theologischen Erkenntnissen beinhalteten. Statt Aufklärung zuzulassen, mauerte man Bastionen. Erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil begann man nachzudenken über die Welt, in der sich das Christentum befand, und sah sich selbst mit einem teils neuen Blick. Diese langsam anhebende Selbstaufklärung war durch die Zeit aufgenötigt. Wie mit ihr umzugehen ist, ist jedoch bis heute offen und pendelt zwischen fundamentalistischer Selbstbehauptung, für die Aufklärung Teufelswerk ist, und einer christlich durchklärten Praxis, die zeigt, dass christliches Zeugnis im Handeln entschieden wird und Handeln so vielfältig ist wie die Menschen, die es tun. Da gibt es keinen universalen Absolutheitsanspruch mehr, der geschichtlich ohnedies durch seine Gewalt desavouiert ist, sondern da ersteht die persönliche und einmalige Verpflichtung aus der Freiheit eines Menschen, in der er sich den Ansprüchen seines Lebens stellt. Das ist aufgeklärtes Christentum, wie man es am gegenwärtigen Bischof von Rom gut erkennt. Dass ihn katholische Fundamentalisten mittlerweile unter die Antipäpste rechnen, spricht für ihn und zeigt, dass Aufklärung in den Religionen eine unendliche Aufgabe bleibt.

Aufgeklärter Euro-Islam?

Deutlich mehr noch als das Christentum hat der gegenwärtige Islam schwere Probleme mit der Selbstaufklärung. Vor kurzem hat Bassam Tibi, Politikwissenschafter syrischer Herkunft, eine resignative Summe gezogen: Die Idee eines aufgeklärten, demokratiefähigen Euro-Islam sei Fiktion, gesiegt habe der sog. Kopftuch-Islam. Wäre das eine rein innerreligiöse Frage, würde sie nicht weiter berühren. Sie impliziert jedoch eine Haltung, die aufgeklärten Demokratien an ihre Fundamente greift. Denn damit kehrt genau der religiöse Absolutheitsanspruch wieder, den die historische Aufklärung bekämpfte, um Gesellschaften zu ermöglichen, in denen religiös unterschiedlich orientierte Menschen miteinander leben können.

Religiöse Selbstaufklärung lässt nun erkennen, dass die eigenen Traditionen nicht unmittelbar göttliche sind, sondern menschliche und daher bedingte, relative Antworten auf das göttliche Geheimnis. Von solch aufgeklärter Einsicht sind alle Traditionen des Islam weit entfernt, die an der Islamisierung der Welt festhalten und allenfalls Duldung von Juden und Christen üben, verbunden mit gesellschaftlicher Ungleichheit und Repression. Das festzustellen bedeutet nicht, den nationalistischen Hetzern, die ebenfalls diesseits von Aufklärung agieren und nur dumpfe Affekte wecken, das Wort zu reden, sondern mit aufklärungswilligem Denken auch dem Islam zu begegnen und ein fragiles humanes Gesellschaftsmodell zu verteidigen, das der Aufklärung entstammt und ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster religiöser und weltanschaulicher Auffassungen in einem gemeinsamen Raum ermöglicht unter der entscheidenden Voraussetzung, dass keine dieser Auffassungen totalitär wird.

Persönliche Verpflichtung

So ist Aufklärung ein humaner Katalysator in Bezug auf religiöse Überzeugungen. In aufgeklärten, offenen Gesellschaften kann es nicht mehr darum gehen, mit dem Feuer der Mission alle religiöse Ungleichheit niederzubrennen. In offenen Gesellschaften gibt es kein religiöses und kein politisches Monopol mehr. An seine Stelle tritt die persönliche Überzeugung eines Menschen, der durchaus religiös gebunden sein kann, entschieden handelt und gleichzeitig die Überzeugungen anderer achtet, sofern sie dem Fortkommen der Menschlichkeit dienen. Denn die Humanität war und bleibt Grund und Leitinteresse von Aufklärung. Nur so lässt sich vielleicht hinauskommen über das, was Imre Kertész das gigantische Negativum der Moderne genannt hat, das, wenn man manche Drohung aus hohen Kreisen hört, keineswegs Vergangenheit ist: Gott hat die Welt erschaffen, der Mensch hat Auschwitz erschaffen. Um das nicht ein zweites Mal heraufzuführen, braucht es Aufklärung, die Religionen begleiten muss, damit sie nicht ihr mörderisches, sondern ihr humanes Potenzial für alle Menschen einbringen.

Der Autor ist ao. Professor für Fundamentaltheologie in Wien

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