Gott in die EU-Verfassung?

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Auf der Suche nach einer gemeinsamen Basis für Atheisten und Gläubige in Europa.

Kompromisse in Grundsatzfragen sind immer faul. Ein solcher Kompromiss wäre es, in einer künftigen EU-Verfassung zur Begründung der "europäischen Werte" den Glauben an Gott neben einem atheistischen Humanismus anzuführen, ohne eine gemeinsame Sprache zu finden. Dies würde den Konflikt zwischen Religion und Aufklärung, zwischen dem Glauben an Gott und dem Glauben an die Vernunft in die Verfassung Europas einschreiben und damit verfestigen, anstatt ihn zu bereinigen. Vor allem aber würden die beiden Begründungen - zumindest dem Wortlaut nach - einander widersprechen und sich gegenseitig aufheben. Das wäre ein sehr fragwürdiges Fundament für Europa.

Auf der Suche nach einer gemeinsamen Basis für beide Seiten sollten die Gläubigen ein offenes Gespräch mit den aufgeklärten, religionskritischen Humanisten aufnehmen. Dabei ist zuerst einmal einzugestehen, dass wichtige Werte, auf denen Europa beruhen soll, (leider) erst gegen das etablierte Christentum durchgesetzt werden mussten. Nicht ohne Grund hat der Papst für ein vielfaches Versagen der Kirche um Vergebung gebeten. Dennoch haben die Ideale der Freiheit und der Würde der einzelnen Person sowie einer prinzipiell universalen Nächstenliebe (des Wohlwollens zu den anderen um ihrer selbst willen) ihre Wurzeln im Christentum. Es ist kein Zufall, dass sich die Idee der Menschenrechte im christlichen Kulturbereich entwickelt hat; sie sind eine Art "säkularisiertes Christentum".

Wert- und Rechtsordnung

Auch nach Ansicht der ungläubigen Humanisten gehören Demokratie und Menschenrechte zu den nicht abstimmbaren Grundlagen der Gesellschaft. Sogar durch eine qualifizierte Mehrheit können sie nicht aufgehoben werden, weil sonst eine Mehrheit die Ausrottung der Minderheit beschließen könnte (oder demokratisch einen Führer einsetzen, der die Demokratie abschafft). Ebenso kann die Verpflichtung zur Vertragstreue nicht selbst Gegenstand eines Vertrages sein. Denn warum soll dieser Grundsatzvertrag mehr gelten als jeder einzelne Vertrag? Es bräuchte wieder einen Vertrag über die Gültigkeit des Grundsatzvertrages - und so fort, bis ins Unendliche, ohne jedes Fundament. Mit anderen Worten: Ohne eine moralische Wertordnung kann keine Rechtsordnung funktionieren. Schon die Frage, was gerecht und was ungerecht ist, lässt sich nicht durch Mehrheitsentscheidungen beantworten.

Wie sollen diese nicht abstimmbaren, von uns Menschen nicht festlegbaren Voraussetzungen menschlichen Zusammenlebens aber begründet werden? Bereits die Rede von "Werten" ist äußerst problematisch. Sie erweckt den Eindruck, dass wir - die Bürgerinnen und Bürger in den Staaten der Union - über diese Werte verfügen könnten, so wie man den Preis von Waren festlegt. Dann wären sie auch abstimmbar, was ihr Ende bedeuten würde. Sind sie also ein Dogma, das blind geglaubt werden muss? Wodurch unterscheidet sich ein Glaube an die Menschenrechte vom Glauben an Gott? Jedenfalls nicht darin, dass die Menschenwürde beweisbar wäre, Gott aber nicht. Vielmehr ist der Glaube des Menschen an sich selbst als Sinngeber seines Daseins schon in sich widersprüchlich. Denn wir können die Fähigkeiten, mit denen wir Sinnvolles wirken (einschließlich der Vernunft), nicht selbst schaffen, sondern müssen sie voraussetzen. Und wenn es keine vorgegebene Wertordnung gibt, ist alles erlaubt; auch ein neoliberaler Sozialdarwinismus, der über Leichen geht und die Umwelt zerstört. Der "Marktfundamentalismus" wird dann zur "neuen Religion" (Joseph Stiglitz, "Die Schatten der Globalisierung", Berlin 2002).

Jürgen Habermas, der sich selbst zu den "religiös Unmusikalischen" rechnet, gab in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels einen wichtigen Hinweis (vgl. Furche 5/2002, Seite 8): "Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren. (...) Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung."

Einen Schritt zur Übersetzung der religiösen Sprache in eine säkulare hat die katholische Kirche bereits getan: Im Zweiten Vatikanischen Konzil sagt sie von den "Menschen guten Willens", zu denen auch Atheisten gehören, die "ein rechtes Leben zu führen sich bemühen", dass diese - in der Sicht des Glaubens - ebenso wie die Christen "der Auferstehung entgegengehen" (Lumen gentium 16 und Gaudium et spes 22). Die Haltung, nach bestem Wissen und Gewissen in der Verantwortung gegenüber dem vorgegebenen Dasein - mitmenschlich und ökologisch - zu leben, nicht wie Gott sein und sich selbst die Maßstäbe für Gut und Böse setzen zu wollen, reicht also nach dem Konzil sogar aus, um eine endgültige Vollendung in der Gemeinschaft der Heiligen zu erlangen. Sie wird daher auch als Basis für ein menschenwürdiges und die Umwelt erhaltendes Zusammenleben genügen.

Vorgegebenheit des Daseins

Die gemeinsame Basis einer humanen Gesellschaftsordnung für Gläubige und Ungläubige könnte demnach darin bestehen, dass beide Seiten die Vorgegebenheit des mitmenschlichen Daseins anerkennen, nicht an die Stelle Gottes treten wollen, sondern ihre Begrenztheit und Abhängigkeit auf sich nehmen; zumindest in einer leisen Hoffnung, dass dieses Leben nicht auf einem absurden, sinnlosen Zufall beruht, sondern das Sein von seinem Grund her sinnvoll ist.

Andernfalls gäbe es die menschliche Würde nicht, weil wir uns diese nicht selbst verleihen können. Der gläubige Humanist unterscheidet sich vom ungläubigen darin, dass er durch entsprechende Erfahrungen (nicht durch einen blinden Glauben an eine Offenbarung) zu einer positiven Deutung dieses Grundes kommt und so zu einer festen Hoffnung, die in ihm mehr Kräfte freisetzt (so wie ein Mensch, der sich geliebt erfährt, zu größerem Einsatz fähig ist, ohne deshalb ein besserer Mensch zu sein als jener, der sich einsam und verlassen erlebt, ohne sich aber zu verschließen).

Das setzt bei den Religionen die Absage an jede Art von Fundamentalismus voraus. Die Wahrheit des Glaubens lässt sich nicht aus einer Offenbarung begründen, die von sich behauptet, Botschaft Gottes und deshalb absolut wahr zu sein; weshalb auch wahr sein soll, dass sie Gottes Wort sei. Das wäre ein Zirkelschluss. Gerade das Christentum ist auf Grund seines hellenistischen Erbes in Gefahr, die unaufhebbare Differenz zwischen Gott und Mensch einzuebnen und damit das bleibende Geheimnis Gottes zu übergehen. Es gibt leider auch ein pseudoreligiöses Wie-Gott-sein-Wollen, das dann im Namen Gottes über andere herrscht. Dazu gehört auch eine "Zivilreligion", die Gott als Garanten der eigenen Ordnung funktionalisiert.

Karl Rahner nennt die ungläubigen Menschen guten Willens "bekümmerte Atheisten". Ehrliche und selbstkritische Religiöse werden immer "bekümmerte Gläubige" sein, weil sie angesichts von Leid und Tod in der Welt zwar nicht die Hoffnung aufgeben, aber in ihrem Glauben verunsichert sind (auch Jesus Christus fühlte sich am Kreuz von Gott verlassen). "Bekümmerte Atheisten" und "bekümmerte Gläubige" verstehen einander. Sie suchen gemeinsam die Grundlagen ihrer sozialen Identität. Auch für ein geeintes Europa der Zukunft - dessen Verfassungspräambel etwa so beginnen könnte:

"In Ehrfurcht gegenüber dem vorgegebenen Dasein, in gemeinsamer Hoffnung, es sinnvoll entfalten zu können, und in wohlwollender Solidarität bilden wir, die Bürgerinnen und Bürger der Länder der Europäischen Union, eine Staatengemeinschaft ..."

Der Autor ist Dozent für Pastoraltheologie in Innsbruck. Ausführlicher behandelt er das obige Thema in seinem Buch "Welche soziale Identität braucht Europa?" (Essay. Mit einem Geleitwort von Kardinal Franz König und einem Nachwort von Erhard Busek. Czernin-Verlag, Wien 2002, 144 Seiten)

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