"Ja, wir sind Barbaren"

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Über Zivilisation und Kultur wurde wohl nirgendwo so intensiv nach-gedacht wie im deutschen Sprachraum. Zivilisation galt dabei als "undeutsch".

Dass - vom Ursprung her gesehen - "Kultur" vom lateinischen "colo" kommt und "Zivilisation" etwas mit dem stolzen "civis romanus" zu tun hat, ist unbestritten, ansonsten gibt es kaum einen universellen Konsens über den Inhalt der beiden Begriffe . Zentrale Quelle dieser geradezu babylonische Sprachverwirrung ist im deutschen Sprachraum die unklare Abgrenzung zwischen "Zivilisation" und "Kultur", welche den Übersetzer von Samuel P. Huntingtons vieldiskutierten Bestseller "The Clash of Civilizations" veranlasste, die deutsche Fassung gegen den Willen des Autors "Der Kampf der Kulturen" zu betiteln.

Zwischen den "Epochen" und "Kulturen" werden die beiden Begriffe gelegentlich synonym verwendet, meinen manchmal durchaus unterschiedliche Bereiche kollektiven Verhaltens und stehen gelegentlich in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, wobei "Kultur" vor allem im deutschsprachigen Raum der höhere Rang zugewiesen wird. Der Ursprung dieser Hierarchisierung liegt wohl in der Verarbeitung der Aufklärung und der Französischen Revolution. Diderots 33-bändiges Monumentalwerk, die "Enzyklopädie", löste alle gesellschaftlichen Institutionen und Denkgewohnheiten von der Religion und band sie irreversibel an die Vernunft. Das neue gesellschaftliche Ideal, das die "Enzyklopädie" setzte, bedeutete allerdings mehr als die Entwicklung der Verstandeskräfte des Menschen, das neue Denken wollte gelebt werden, es zielte in einer sehr pragmatischen Weise auf soziale und gewerbliche Nützlichkeit und auf die politische Sphäre. Der Begriff "Zivilisation" bündelte diese Intentionen und bedingte den Gegenbegriff "Barbarei".

Im deutschen Sprachraum mit seiner quantitativ und qualitativ schwächeren Aufklärung bildeten "Bildung" und "Kultur" zwischen 1770 und 1830, parallel zur Entstehung eines modernen Erziehungsideals, die Leitbegriffe eines Ideals geistiger Individualität, freier Geselligkeit und der Selbstbestimmung einer sich bildenden bürgerlichen Oberschicht, der "Gebildeten". Im deutschen Idealismus und im Neuhumanismus erhielten die beiden Begriffe ihre nationale Signatur; nirgendwo in der internationalen Geistesgeschichte sind sie derart intensiv reflektiert worden wie im deutschen Sprachraum bis hinauf ins zwanzigste Jahrhundert. Der deutsche Sprachgebrauch von "Bildung" und "Kultur" ist ja außergewöhnlich: im ganzen Umfang ihrer Bedeutungsfülle, mit all der mit ihnen verbundenen Aura sind die beiden Begriffe praktisch unübersetzbar. "Bildung" ist mehr als "education" oder auch "liberal education", Kultur meint mehr als "culture".

Diese spezielle Aura der beiden Begriffe gelten als Bestandteil des deutsch-österreichischen "Sonderwegs" in die Moderne. Es gibt, dieser Theorie zufolge, einen sozusagen normalen Weg in die Moderne, der sich aus den Schritten Konstitution der Nation, Aufklärung, Industrialisierung und damit verbunden Herausbildung neuer gesellschaftlicher Klassen - also Bürger und Arbeiter -, Kampf gegen den feudalen Absolutismus, bürgerliche Revolution und allmähliche Etablierung einer parlamentarischen Demokratie zusammensetzt. Deutschland und Österreich mit ihrer komplexen Nationsbildung, ihrer Behinderung der Aufklärung durch die feudale Zensur, ihrer im Vergleich zu Großbritannien verzögerten Industrialisierung, ihrer im Vergleich zu Frankreich fragmentarischen bürgerlichen Revolution und ihrer langen Dominanz der jeweiligen Aristokratie sind dieser Theorie zufolge einen "Bildung" und "Kultur" forcierenden "Sonderweg" gegangen, der sie für den Faschismus anfällig gemacht hat. Eine gewisse Gegnerschaft gegenüber "Zivilisation" gehört zu diesem "Sonderweg".

Stolz auf Kultur

Diese Gegnerschaft hat sich aus vielen Quellen gespeist. Mit der Ode "Sie und nicht wir ..." artikulierte Klopstock den Neid der deutschen Intelligenz auf den Beginn der revolutionären Ereignisse in Frankreich. Das zerrissene Deutschland und seine Intellektuellen litten unter dem absolutistischen Staat in ähnlicher Weise, wie die Franzosen, fühlten sich zu einer Revolution aber unfähig und waren vor allem ab dem Jahr 1793, dem Jahr des "Großen Terrors", von der Revolution enttäuscht. In das durch diesen vielfältigen Gefühlscocktail entstehende Vakuum setzten sich das Bildungsideal und der Stolz auf die nationale Kultur als Kompensation erkannter Defekte.

Das deutsche Bildungsideal weist einen "Weg nach Innen", die nach außen gewandte französische Haltung mit ihrer Alternative "Bourgeois oder Citoyen", die sich beide in einer "Zivilisation" bewegen, ist ihm fremd. Es propagiert zwar eine "volle Menschlichkeit", ein Ideal der Vollkommenheit, der Ausbildung des Inneren am Äußeren, des Maßes, der Harmonie und der praktischen Begabung, doch gleichzeitig die Abstinenz von der politischen und der merkantilen Sphäre, wesentlichen Elementen von "Zivilisation" im französischen Sinn. Für das Ideal der harmonischen Selbstentfaltung bietet sich nur die geistig interpretierte Welt als Medium an: Sprache, Künste, Wissenschaften. Diese als Resignation deutbare Abwertung der breit gestreuten Ziele der Aufklärung war äußerst erfolgreich, die beiden Zwillingsbegriffe "Kultur" und "Bildung" avancierten von nun an zu etwas, was der deutsche Kulturwissenschafter Georg Bollenbeck ein "Deutungsmuster" nennt, etwas, was Wahrnehmungen leitet, Erfahrungen interpretiert und Handeln motiviert und dessen Nachwirkungen bis weit ins zwanzigste Jahrhundert reichen. Noch der Austromarxist Max Adler definierte ungeachtet seiner sonstigen Radikalität die Arbeiterbewegung als "Kulturbewegung".

Dass die "Zivilisation" von den Armeen Napoleons exportiert wurde, was den mythologisch hochaufgeladenen deutschen Befreiungskrieg auslöste, spielte eine zusätzliche wichtige Rolle für deren spätere manifeste Abwertung im deutschen Sprachraum. "Zivilisation" avancierte zu etwas aufgezwungenem, das zudem mit ängstigenden, einengenden Veränderungen war; die Orientierung an "Bildung" und "Kultur" führte zunächst weg von der gefährlichen Gegenwart ins idealisierte Reich der Antike. Allmählich fusionierte sich der Kulturbegriff mit dem Evolutionismus, dem Gedanken eines allseitigen Entwicklungsprinzips in Natur und Gesellschaft: "Kultur" wurde im Gefolge der klassischen deutschen Philosophie als ein allmählicher Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung gedacht. Der deutschen Kultur der Klassik wurde dabei die Führungsrolle zuerkannt - Bildung und Kultur waren das "Eigene" und legten Zeugnis ab von Deutschlands Größe; Kultur war (deutsch-) national, Zivilisation international.

"Entdeutschung"

Gut sichtbar wird der damit verbundene Dünkel am Beispiel der Bewertung Englands: Harry Graf Kessler verwies im Vergleich zu England auf das Defizit des deutschen Entwicklungsideals an zivilisatorischen Komponenten wie Sport, Politik, Naturwissenschaft, Handel und Produktion. Friedrich Albert Lange konterte, England diene höchstens als Objekt der Kritik wegen seines "Materialismus" - das sind Vorwürfe, die in dem patriotischen Exzess der "Ideen von 1914" eine wichtige Rolle spielten: deutscher Geist gegen englisches Händlertum und französische "Zivilisation". In jenem berüchtigten Kapitel "Der Zivilisationsliterat" in seinen "Betrachtungen eines Unpolitischen" ereiferte sich Thomas Mann über das "wurzel- und wesenlose Lumpenpack, das eine internationale Zivilisation propagiert", nennt die Entente ein "Imperium der Zivilisation" und freut sich über die "uralte Auflehnung Deutschlands gegen den westlichen Geist". "Demokratisierung" heißt "Entdeutschung", wer die "Zivilisation" will, - so Mann, der seine politische Weltsicht später revidierte - will die deutsche Niederlage. Jene Propaganda der Entente, die den Krieg als einen im Namen der "Zivilisation" geführten darstellte, stimmte mit dem Selbstverständnis eines Teils der deutschen Kriegsintellektuellen durchaus überein.

In dieser auch nach dem Ersten Weltkrieg einflussreichen Kritik an der "Zivilisation" spielte das Begriffspaar "Kraft" und "Schwäche" eine wesentliche Rolle - "Zivilisation" und "Dekadenz" wurden nahezu synonym verwendet. Für Houston Stewart Chamberlain war die wesentliche Eigenschaft unserer Zivilisation ihr "papierener" Charakter und Oswald Spengler verstand "Zivilisation" als das unausweichliche Schicksal der Kultur - ihr "geistiges Greisentum" und ihr "Tod". In den zahlreichen Bestsellern über Aufstieg und Niedergang der Imperien war eine neue kraftvolle und daher favorisierte Figur aufgetaucht: der "Barbar", der als "Römer" oder "Germane" ein schwach gewordenes Reich liquidiert. Am Ende dieser vitalistisch argumentierenden antizivilisatorischen Stimmung steht Adolfs Hitlers Bekenntnis aus 1933: "Ja, wir sind Barbaren, wir wollen es sein (...) Wir sind es, die die Welt verjüngen werden. Die Welt ist am Ende."

Friedrich Erdmann Petris 1806 erstmals erschienenes, von den politischen Kämpfen rund um "Kultur" und "Zivilisation" unbelastetes "Handbuch der Fremdwörter" definierte "Civilisation" noch als "Sittenmilderung, Entwildung, Gesittung". Norbert Elias hat sich in seiner legendären Studie "Über den Prozess der Zivilisation" an diese Entschärfung angeschlossen und sozusagen versucht, sich aus den Begriffskämpfen des 19. Jahrhunderts zu verabschieden. Elias rekonstruierte die Genesis des - vereinfacht formulierten - deutsch-französischen Kampfes mit dem Ziel, diesen damit zu relativieren und die "Verhärtung und Selbstverständlichkeit" der Gegenüberstellung von "Kultur" und "Zivilisation" aufzuheben. Der Begriff Zivilisation, so seine apriorische Erklärung, sei "diffus" und "halb metaphysisch" - als Wissenschafter beschränkt sich Elias von Anfang an auf den Prozess der Entwicklung der menschlichen Affektkontrolle. Die wissenschaftliche Diskussion um die Thesen des Norbert Elias sei hier beiseite gelassen, auf der Ebene der "Politik der Begriffe" ist ihm weder diese Entschärfung wirklich gelungen, noch ist er so fern von seinen deutschen Vorgängern, wie er meint. Gerade der Umstand, dass Elias den Zivilisationsprozess auf einige zentrale Komponenten einengt, lässt ihn das ungeheure Konfliktpotential anderer Komponenten ignorieren. Vor allem aber argumentiert Elias - seiner universell angelegten Untersuchung zum Trotz - extrem eurozentrisch: der Begriff "Zivilisation" bringe das "Selbstbewusstsein des Abendlandes" zum Ausdruck.

Barbaren an der Macht

Vom Abendland inklusive seinem drohenden Untergang spricht heute keiner mehr - heute geht es um die "westliche Zivilisation". Zwei populäre Bücher haben differierende Szenarios ihrer künftigen Entwicklung geliefert. Francis Fukuyama ortet mit dem Jahr 1989 ein "Ende der Geschichte": wir seien Zeugen eines uneingeschränkten Triumphs der westlichen Ideen, zusammengefasst im politischen und ökonomischen Liberalismus, zu dem es keine sichtbare Alternative gebe. Samuel P. Huntington vermag diesen Optimismus nicht zu teilen: es gebe heute sieben Zivilisationen, ökonomisch und was die Stärke der Populationen betreffe, werde die westliche Zivilisation immer schwächer. Die Zivilisationen stünden zueinander in einem hostilen Verhältnis und gerade die Globalisierung könne bewirken, dass ein irgendwo stattfindender "Zusammenstoß der Zivilisationen" die westliche involviere und zerstöre. Nicht nur die Populärkultur hat dieses Bedrohungsszenario gerne aufgegriffen: John Updike etwa beschreibt in seinem Roman "Gegen Ende der Zeit" ein Amerika, das einen solchen Zivilisationskrieg zwar gewonnen hat, ansonsten aber teilweise in der Steinzeit angelangt ist und dessen Zentralregierung von einander befehdenden Gangstern abgelöst wurde - die "Barbaren" haben die Macht übernommen.

Die 1997 erschienene Untersuchung Manfred Schneiders über den "Barbaren" belegt, dass solche Fantasien überzeitlichen Charakter haben. Die ambivalente Figur des "kraftstrotzenden Barbaren" spiele traditionell eine emblematische Rolle in allen Konzepten von Kulturzyklen und Kulturerneuerungen - sie diene sowohl den Erneuerern als Ausdrucksmittel wie auch den "Apokalyptikern" als Figur zur Illustration ihrer Angstbilder. "Endzeit", so Schneider lange vor dem 11.September, sei immer.

Der Autor ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien.

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