Die Gabe des listigen LEVIATHAN

19451960198020002020

Die Menschenrechte könnten die Welt tatsächlich nachhaltig verändern. Doch aktuelle Beispiele zeigen, wie leicht sie ausgehebelt werden können.

19451960198020002020

Die Menschenrechte könnten die Welt tatsächlich nachhaltig verändern. Doch aktuelle Beispiele zeigen, wie leicht sie ausgehebelt werden können.

Werbung
Werbung
Werbung

Stellen wir uns einmal vor, die Welt liefe ganz anders herum in dem, was sich auf ihr so tut. Sozusagen nicht mit, sondern gegen den Uhrzeigersinn. Dann kämen wir oft zu überraschenden Ein- und Ansichten, die uns die Geschichte und die Gegenwart vielleicht viel besser erklären, als die herkömmliche Berichterstattung das tut. Die Geschichte des Rechts ist besonders dazu geeignet, auch jene des in diesen Tagen 70 Jahre bestehenden UN-Menschenrechts.

Diese Rechte werden beinahe ausschließlich aus der Sicht der Schwachen, der Hilflosen, der Opfer gesehen und interpretiert. Und tatsächlich sind sie ja auch Hilfe, welche den Armen, Rechtlosen und Schwachen 1948 gewährt wurde. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Denn sie sind mindestens ebenso ein Schutz für jene, die sich an der Macht befinden. Wäre in der Rechtsgeschichte der Menschenrechtsvorläufer etwa der König von England nicht dem Drängen des Adels nach Schutz von Eigentum und Integrität nachgekommen, das Vereinigte Königreich wäre längst schon kein Kingdom mehr und der König wäre schon 1215 seines Throns enthoben und tatsächlich ein Johann ohne Land geworden.

So schützt die Magna Carta und jeder Untertanen-Rechtsakt vor und nach ihr nicht nur den Schwächeren, er bewahrt auch den Mächtigen davor, seiner Stellung beraubt zu werden. Er stellt machtphilosophisch die abgemilderte Form des unumschränkt herrschenden Leviathan von Thomas Hobbes vor. Herabgemildert durch Untertanen, die auf Jean-Jaques Rousseau bestehend ihre Würde einfordern. Es ist also ein Handel zwischen Extremen. Und wenn man diesem Ansatz folgt und aktualisiert, ergeben sich erstaunliche Überlegungen.

Der Mächtige und seine Tat

Was also, so die prinzipielle Frage über allem, was würde der Mächtige tun, um seine Macht zu sichern, und dabei trotzdem alle Untertanen zufriedenzustellen? Er würde zunächst das Recht aller auf ein Recht propagieren, das seinem eigenen nicht zuwiderläuft. Das tut er, indem er ein rechtsstaatliches System festsetzt, das alle Rechte gewährt, die seinen eigenen Bürgern bereits gewährt sind. Das sind in moderner Version die Menschenrechte. Gleichzeitig aber würde sich der Herrscher absichern, die gewährten Rechte aussetzen zu können, wenn ein „öffentlicher Notstand“ konstatiert wird. Das liefert Artikel 4 des UN-Zivilpaktes: Der Notstand darf Menschenrecht brechen. Diesen Notstand ruft aber naturgemäß nicht der Untertan aus, sondern der Mächtige. So kann er Recht nehmen, wie er es gegeben hat.

Die These klingt zynisch überhoben, findet aber so viele Beispiele, dass der Verdacht naheliegt, sie könnte stimmen. Nehmen wir etwa Honduras, das 1966 der Menschenrechtkonvention beitrat, 1981 den UN-Sozialpakt ratifizierte und 1997 den Zivilpakt. Das Land verfügt über reiche Bodenschätze aber ihre Ausbeutung obliegt nur einer kleinen Elite. Als enteignete Bauern und Oppositionelle 2009 auf die Straße gingen, galt das Menschenrecht nicht mehr. Es wurde geschossen, verhaftet, verschleppt und getötet. Seither werden Gewerkschafter und Journalisten verfolgt, Gegner niedergeschlagen. Nun sind Tausende Honduraner ihrer Illusionen beraubt und wollen weg, Richtung USA. Und was geschieht? Nach Hunderten Kilometern Marsch kommen sie an, an der Grenze eines Landes, das 1992 den Zivilpakt ratifiziert und 1977 den Sozialpakt unterzeichnet hat. Und müssen feststellen, dass in einer Notstandsaktion die Armee in Gang gesetzt wurde, um sie aufzuhalten.

Das spezielle Menschenrecht

Man muss in diesem aktuellen und anderen Fällen feststellen, dass es zwar Menschenrechte gibt, aber dass sie nicht "allgemein" sind. Und weiters, dass Menschenrechte zwar verteidigt werden, aber nicht gegen jene, die sie angreifen, sondern gegen die, die sie suchen. An der Grenze von Mexiko ebenso wie an der Grenze zu Europa. Menschenrechte sind so gesehen Besitzstand, wie Reichtum auch.

Begonnen hat diese Entwicklung 2002 mit staatlich organisierter Folter von Verdächtigen in Guantanamo im Kampf gegen den Terror und der Missachtung der Menschenrechte durch die USA. Der "Notstand", den 9/11 auslöste, dauert bis heute an und hat die US-Gesellschaft längst gespalten - und zwar exakt entlang der Frage, ob die Menschenrechte für alle gelten oder nur für die Überlegenen.

Die ethische Wende

Und ist es nicht auch ein Zeichen einer ethischen Wende, wenn in der Qualitätszeitung Die Presse unter einen Artikel über unglaubliche hygienische Missstände, Dreck und sexuelle Nötigung in Lagern in Griechenland Leserkommentare erscheinen wie "dann wärens halt zu Haus geblieben"? Die Menschenrechte mögen ja heute unter Verdacht stehen, die Zivilisation zu verraten, aus der sie hervorging. Andererseits sind sie nun schon 70 Jahre der ethische Leuchtturm des Westens. Hätte er also nicht schon längst untergehen müssen? Oder anders gefragt: Haben die Gesetze ihren Charakter geändert, oder wir den unseren? Aber es gibt noch Fragen jenseits des Suprematismus, die sich mit der Zwiegestalt der Menschenrechte befassen. So sieht die europäische Rechtstradition die bürgerlichen und politischen Rechte oft als die "wichtigen" Menschenrechte an, während die wirtschaftlichen und sozialen Rechte, also das Recht auf Arbeit, Bildung und soziale Standards, den zweiten Rang einnehmen. Es handelt sich da um Rechte, die vom Staat als Leistung erbracht werden müssten. Während Rechte im Zivilpakt nur durch Notstand ausgesetzt werden können, gibt es für die Rechte im Sozialpakt nicht einmal eine Beschwerdemöglichkeit. Erst 22 Staaten, darunter Frankreich und Spanien, haben sich dazu verpflichtet, für diese Rechte auch zu haften.

Da zeigt sich eine Tendenz, die nicht überraschen mag: der Vorherrschaft ökonomischer Interessen vor dem individuellen Recht. Das geschieht in scheinbar unterhaltenden Zusammenhängen genauso wie in harten politischen. So verpflichtet sich etwa der Weltfußballverband den Zielen der Menschlichkeit und Völkerverständigung, während im Emirat Katar Gastarbeiter unter Sklavenbedingungen die Stadien für die nächste Fußball-WM bauen. Der saudische Prinz Mohammed bin Salman wird von den USA als strategischer Partner gehätschelt, während saudische Regimegegner verfolgt werden, ein Journalist von einem Killerkommando im Ausland umgebracht und der Jemen in Schutt und Asche gebombt wird.

Freilich ist die UNO auch selbst an dieser Entwicklung schuld. Denn es hat Vertragsorgane zur Überwachung der Menschenrechte geschaffen, die tatsächlich keinen Wert haben, weil darin Saudi-Arabien, China und andere Menschenrechtsverächter andere Staaten dazu bewegen sollen, die Menschenrechte zu achten. Das relativiert letztlich auch die Verantwortung der großen Staaten, wie etwa der USA, die Rechte ernst zu nehmen, können sie doch bei jeder eigenen Verfehlung auf den Menschenrechtsrat verweisen.

So sind die Menschenrechte insgesamt eine tönerne Angelegenheit in einer stählernen Welt geblieben, weil sie Verfehlungen nicht genügend ahnden, weder politisch noch wirtschaftlich. Wären sie es, es gäbe mit Sicherheit wesentlich weniger Flüchtlinge, Armut und Kriminalität auf der Welt. Dazu bräuchte es freilich einen langfristig handelnden Leviathan. Oder aber Untertanen, die ihn dazu zwingen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung