"Wehret den Anfängen"

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Menschenrechte sind Rechte einzelner; sie sind kein typisch "westliches" Produkt, meint der Chef von "amnesty international" in Österreich.

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Menschenrechte sind Rechte einzelner; sie sind kein typisch "westliches" Produkt, meint der Chef von "amnesty international" in Österreich.

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dieFurche: Wir feiern heuer 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; ein Zyniker könnte fragen, ist die Welt seither besser geworden ...

Patzelt: "amnesty international" feiert nicht, "amnesty" begeht. Wir sind sehr stark der Meinung, daß es wichtig ist, diesen Jahrestag öffentlich wahrzunehmen, aber zum euphorischen Feiern sehen wir nicht so viel Anlaß. Wir sehen, daß sich viel verändert hat in diesen 50 Jahren, wir sehen aber auch, daß noch sehr viel mehr an Veränderung notwendig ist. Wenn Sie die Welt vor 50 Jahren hernehmen: Frankreich führte einen selbstverständlichen Kolonialkrieg in Algerien, Großbritannien tat dasselbe in Kenia - so etwas ist heute zumindest bei einem wesentlichen Teil der Staaten nicht mehr möglich. Vor 50 Jahren waren Menschenrechte eine Randnotiz in Zeitungsmeldungen und Nachrichtensendungen - das ist es heute nicht mehr. Wir haben einen Moralkodex, der sehr umfassend ist, der von niemandem grundsätzlich in Zweifel gezogen wird. Es gibt keine Regierung der Welt, die sagen würde, Menschenrechte, was ist das, interessiert uns nicht, brauchen wir nicht. Wir haben freilich sehr viele Regierungen in der Welt, die Menschenrechte für das benutzen, was gerade opportun ist, ohne sie in ihrer Gesamtheit ernst zu nehmen. Ich erinnere daran, daß vor 50 Jahren nirgends gestanden ist, daß es unzulässig ist, Menschen zu foltern, um Geständnisse herauszupressen. Es wird heute auch noch gemacht, und es wird in der Nachbarschaft gemacht; Israel, Spanien, Großbritannien sind uns nahestehende Staaten, die das tun. Es ist in sehr vielen anderen Staaten auch noch immer Praxis, aber es ist klar, daß es nicht richtig ist. Das ist ein wesentlicher Fortschritt.

dieFurche: Es gibt eine Diskussion darüber, ob die Menschenrechte nicht ergänzt werden sollten durch einen Katalog von Menschenpflichten. Halten Sie das prinzipiell für sinnvoll?

Patzelt: Es mag vordergründig interessant wirken, wir halten das für sehr gefährlich und bedenklich. Es ist naheliegend zu sagen, wer Rechte hat, hat auch Pflichten. Wir versuchen sehr klar darzustellen, daß es hier um Rechte des einzelnen gegenüber der Staatsmacht, gegenüber anderen Kollektiven geht, und wir sehen in der Ausrufung von Menschenpflichten die Tendenz, Regierungen in die Hand zu spielen, die diese Rechte sehr gerne einschränken wollen.

dieFurche: Die Idee kommt aber von Leuten wie etwa Helmut Schmidt, die gewiß unverdächtig sind ...

Patzelt: Ja, absolut unverdächtig, das ist gar keine Frage. Ich glaube nur, daß es Getriebene sind. Und ich möchte nicht über Menschenpflichten reden, solange die Menschenrechte so wenig verwirklicht sind. Ich sehe keinen Bedarf an dieser Diskussion.

dieFurche: Wie läßt sich dem Vorwurf begegnen, bei den Menschenrechten handle es sich um ein eurozentrisches Konzept, das anderen Kulturen übergestülpt würde?

Patzelt: Ich sehe zwei Antworten darauf: erstens eine historische - die Menschenrechtserklärung ist keinesfalls nur vom Osten und vom Westen beschlossen worden, es war der Süden beteiligt, es waren China, die Philippinen, auch afrikanische Länder daran beteiligt, also es war - schon von der Gruppe der 18, die das Redaktionskomitee gebildet haben - sehr wohl ein universeller Zugang da. Zweitens aber wende ich ein, daß ich keinen verfolgten Asiaten kenne, der je gesagt hätte, ich werde gerne verfolgt und will mir euren Menschenrechtsschutz nicht aufzwingen lassen. Es ist ein Argument, das ausschließlich von Regierungen kommt, und ich behaupte, daß es eine Schutzargumentation ist, um nicht kritisiert werden zu können.

dieFurche: Halten Sie die Menschenrechte von ihrer Entstehung und Entwicklung der Idee her für etwas genuin Europäisches, das sich im Zuge der Aufklärung entwickelt hat?

Patzelt: Ich glaube, daß die Europäer für sich in Anspruch nehmen können, das erstmals kodifiziert zu haben, aber sicher nicht, die Menschenrechte erfunden zu haben. Damit ist es auch nichts genuin Europäisches. Es sind Gedanken weitertransportiert, ausformuliert, gerade in den sozialen Rechten präzisiert worden, aber es wurde nichts grundsätzlich Neues erfunden. Innerhalb von Gemeinschaften gab es auch vor vielen Tausenden Jahren schon einen menschenrechtskonformen Umgang untereinander; mit dem Verhalten nach außen war es etwas anderes, aber da sind vermutlich auch ganz andere Bedrohungsbilder dahintergestanden. Also, ich halte Menschenrechte weder für eine Erfindung der Neuzeit, und schon gar nicht für eine europäische Erfindung.

dieFurche: Es scheint, als würde künftig aufgrund des Bedeutungsverlustes nationalstaatlicher Politik gerade die Auseinandersetzung mit zentralen Themen - wie Menschenrechte oder Umweltschutz - noch stärker an NGO's (Nicht-Regierungsorganisationen, Anm.) delegiert werden? Ist das nicht problematisch, wenn die Politik wesentliche Bereiche an nicht demokratisch legitimierte Institutionen, wie es NGO' nun einmal sind, abtritt?

Patzelt: Das ist ein heikler Punkt. NGO's, die sich im Menschenrechtsbereich bewegen, müssen sich einer sehr hohen Verantwortung in dieser Richtung bewußt sein, müssen sich organisationsintern sehr sorgfältig demokratisch legitimieren - das ist etwas, das bei "amnesty" in einem sehr hohen Ausmaß passiert. Sie müssen darauf achten, daß sie sehr korrekt in ihren gewählten Themen und halbwegs ausgewogen in ihrer Themenauswahl bleiben. "amnesty" hat ein klar begrenztes Mandat. Wir versuchen, Regierungen nicht aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Wir nehmen nicht hin, daß man staatlicherseits Verantwortung an uns delegiert, wir lassen uns nicht bezahlen von Regierungen, ein ganz wichtiger Punkt, der uns auch sehr schwierige finanzielle Verhältnisse beschert - im Gegensatz zu anderen, die viel Geld von der Regierung nehmen, und damit auch sinnvolle Arbeit machen. Wir haben uns für den anderen Weg entschieden; es kann keine Regierung behaupten, "amnesty" macht das schon für uns. Wir gehen nicht hin und schreiben Gesetzesentwürfe und präsentieren, was wir haben wollen. Wir regen an, daß die Stellen, die dazu berufen sind, die Gesetze machen und dies in menschenrechtskonformer Weise tun. Wir haben zum Asylgesetz keinen Gegenentwurf geschrieben, wir haben den vorhandenen Entwurf sehr intensiv kommentiert. Ich glaube, daß unsere Legitimation das Benützen der demokratischen Wege ist. Daß das das Problem nicht hundertprozentig löst, ist auch ganz klar. Schlußendlich bleibt es eine Gratwanderung.

dieFurche: Es sorgt alljährlich für Unmut, wenn auch Österreich im ai-Jahresbericht nicht sehr rühmlich davonkommt. Auch wenn sich die nationalen Sektionen nicht mit dem jeweils eigenen Land beschäftigen: Wie schätzen Sie die Menschenrechtslage in Österreich ein?

Patzelt: Es geht uns in Österreich sehr, sehr gut; und es geht anderen Menschen in anderen Staaten sehr viel schlechter. Damit kann man sich aber nicht befriedigt zurücklehnen und zur Tagesordnung übergehen. Ich sehe das Problem sehr stark unter dem Aspekt "Wehret den Anfängen". Wenn in Österreich ein Mitbürger einen Polizisten beschuldigt, ihn grausam behandelt zu haben, und man sagt, das ist ein Einzelfall; wenn ich mir als nächstes Großbritannien hernehme, wo Sicherheitskräfte Immunitätsbescheinigungen haben und über menschenrechtsproblematische Aktionen während Verfolgungshandlungen vor Gericht nicht aussagen müssen; wenn ich mir Israel hernehme und anschaue, daß dort definiert ist, daß je nach Situation auch physischer Druck ausgeübt werden darf; und wenn ich mir Saudi-Arabien hernehme, wo Folter und Hinrichtungen, auch Steinigungen an der Tagesordnung sind - dann finde ich keine Möglichkeit, einen Strich dazwischen zu ziehen und zu sagen, darunter ist es eigentlich eine Kleinigkeit und eine Sauerei, daß es in einem Jahresbericht vermerkt ist, und darüber ist es ganz klar, daß es eine systematische Menschenrechtsverletzung ist. Österreich ist keine Insel der Seligen, und schon gar nicht, wenn ich mir den Asylbereich anschaue. Ich bin überzeugt davon, daß nicht jeder Österreicher in Österreich menschenrechtskonform behandelt wird. Ich bin ganz sicher, daß viele Asylsuchende nicht menschenrechtskonform behandelt werden. Das macht mich als Staatsbürger betroffen und führt mich als "amnesty"-Generalsekretär zu der Überzeugung, daß es richtig ist, daß Österreich im Jahresbericht drinnensteht; und ich freue mich auf den Tag, an dem das nicht mehr notwendig sein wird.

dieFurche: Inwieweit lassen sich die einzelnen Staaten der Welt überhaupt miteinander vergleichen? Wenn der ai-Jahresbericht Nordkorea zweieinhalb Seiten widmet und ebensoviel Platz Österreich - entsteht da nicht ein falscher Eindruck?

Patzelt: Ich glaube, daß man in Menschenrechtsfragen nicht pauschalieren kann. Eine Gemeinschaft, die in vielen Bereichen weit entwickelt ist und eine hohe ausgereifte Sozialstruktur hat wie Österreich, hat noch viel weitreichendere Verpflichtungen bei der Wahrung seiner Rechtsstandards als ein Gemeinwesen, das am Anfang so einer Entwicklung steht; auch dort gibt es ganz hohe Verantwortung, aber je besser es einem geht, umso sorgfältiger muß man im Einzelfall agieren. Das darf man nicht natürlich nicht umkehren: je schlechter es einem geht, desto fahrlässiger darf man agieren. Natürlich ist die Lage in Nordkorea eine sehr, sehr viel bedenklichere, als die in Österreich, und das muß man auch richtig werten. Für den einzelnen Betroffenen macht es aber keinen Unterschied. Der Polizeiübergriff in Nordkorea ist für den Betroffenen genauso schlimm, wie der Übergriff in einem anderen Land. Und um diesen sehr subjektiven Aspekt geht es: Menschenrechte sind Rechte für einzelne Menschen.

dieFurche: In einer Aussendung von "amnesty" hieß es, Ihre Organisation wünscht sich für den EU-Vorsitz Österreichs, daß das Land als "Menschenrechtsgroßmacht" - vor allem in Hinblick auf die Osterweiterung - auftritt. Heißt das, daß Österreich sich besonders stark machen soll, daß möglichst schnell möglichst viele der Kandidaten-Länder an den Segnungen der EU teilhaben oder heißt es, daß man bei den Beitrittswerbern vielleicht sogar besonders kritisch sein sollte, was deren Menschenrechtssituation angeht?

Patzelt: Was wir vermitteln wollen, ist: vergeßt bei den Beitrittsverhandlungen die Menschenrechte nicht; macht Menschenrechte zu einem Thema dieser Verhandlungen. Ob es besser ist, möglichst rasch möglichst viele Länder in die EU zu holen und dann Menschenrechtsstandards durchzusetzen oder möglichst lange von außen zu sagen, solange ihr euch nicht bessert, lassen wir euch nicht herein, das wollen und können wir nicht beantworten.

dieFurche: Gibt es so etwas wie eine Rangordnung unter den Menschenrechten, oder ist etwa das Verbot der Sklaverei oder der Schutz der Freiheitssphäre des einzelnen gleichbedeutend mit dem Recht auf Freizeit und Wohlfahrt?

Patzelt: Alle Menschenrechte sind gleich, sie sind vor allem unteilbar, sie sind nicht gegeneinander aufwiegbar. Es mag zu unterschiedlichen Zeiten für das einzelne Individuum unterschiedlich bedeutsame Menschenrechte geben: Am Schafott interessiert mich das Recht auf Freizeit nicht, aber wenn ich eine Familie zu ernähren habe und aufgrund diskriminierender Gesetze - etwa wegen meiner Rassenzugehörigkeit - keine Arbeit bekomme, ist das Recht auf Arbeit plötzlich sehr zentral.

dieFurche: Sind nicht manche Artikel zumindest deutlicher konturiert? Ich kann klar sagen, es gibt Sklaverei, oder es gibt keine, es werden Zeitungen zensuriert, oder eben nicht. Im sozialrechtlichen Bereich ist das nicht so leicht möglich, wenn ich etwa an die Diskussion um die Flexibilisierungen in der Arbeitswelt denke.

Patzelt: Die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" wurde 1948 geschrieben und seither nicht verändert. Wir hatten damals die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als es viel strafrechtlich relevante Greuel gab; und das Strafrecht hat immer gegenüber anderen Rechtsbereichen Formulierungsvorsprung. Es gibt in Gesellschaften zuerst immer klare Formulierungen, was ist Raub, was ist Einbruch, was ist Mord; es gibt sehr viel später präzise Formulierungen zu Arbeitsrechten und noch einmal später zu kulturellen Rechten. Ich glaube, daß sich die verschieden präzisen Formulierungen in der Menschenrechtserklärung vor allem historisch erklären lassen. Man konnte damals leichter einen Konsens über Sklaverei erzielen als über Arbeitsgestaltung. Ich glaube, daß man daraus nicht eine verschiedene Wertigkeit herauslesen kann, ich glaube, daß es der Auftrag an Regierungen und an Einzelmenschen ist, aus breit gehaltenen Formulierungen aktuell Relevantes herauszuholen. Ein Gesetz ist nicht immer dann gut, wenn es präzise zu einer Situation Stellung nimmt. Denken Sie an die Straßenverkehrsordnung, die alles bis ins Detail regelt und dafür dreimal pro Jahr novelliert werden muß; und andererseits an das viel allgemeiner gehaltene Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, das viel längeren Bestand hat.

dieFurche: Könnte es also sein, daß es auch bei der Menschenrechtserklärung einmal einen Novellierungsbedarf gibt, daß da manches um- oder wenigstens fortzuschreiben ist; oder handelt es sich dabei um einen für alle Zeiten festgelegten Kanon?

Patzelt: Wenn es die Menschenrechtserklärung nicht gäbe und wir uns heute hinsetzen würden, und zu schreiben begännen, dann wären viele Formulierungen wahrscheinlich ein bißchen anders; wir hätten aber einen hoffentlich genauso global gültigen, solange nicht hinterfragten und so vernünftigen Gesamtbestand. Das wäre anders und hoffentlich auch gut. Was ich für meinen Teil niemals befürworten würde: daß man heute anfängt, Novellierungsverhandlungen zu führen. Wenn das passieren würde, wäre das realistische Szenario, daß 191 Einzelstaaten 191 Novellierungswünsche hätten. Und wenn ich mir anschaue, was in den Vereinten Nationen oft herauskommt, dann bin ich sehr froh, daß wir das haben und möchte damit noch sehr lange gut arbeiten können.

Das Gespräch führte Rudolf Mitlöhner

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