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Politische Relikte aus vergangenen Jahrhunderten

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Politiker tun sich - seit diese Betätigung ein Beruf geworden ist - in aller Regel ganz offenkundig schwer mit klarem Denken, und vor allem mangelt es ihnen an etwas, was man politische Phantasie nennen könnte. Warum das so ist, ließe sich klar vom Wiederwahlstreben und Beharrungszwang ableiten, würde aber hier zu weit führen und von dem weg, worüber hier nachgedacht werden soll.

Der Effekt der intellektuellen Un-beweglichkeit fast aller Politiker ist, daß die Regelung aller internationalen Beziehungen - das reicht von der UNO-Charta bis zu bi- und multilateralen Verträgen und zu Staatshöflichkeiten - auf Grundlagen beruht, die aus dem 17. Jahrhundert stammen und zuletzt Anfang des 19. Jahrhunderts (auf dem Wiener Kongreß) modifiziert wurden. Die Staaten - das heißt also: die Politiker - handeln nach Mustern und Grundsätzen, die aus einer Zeit stammen, in der Europa die Welt war, und in der auf der ganzen Welt nicht einmal eine halbe Milliarde Menschen lebten. (London, die 1820 größte Stadt der Welt, zählte 1,3 Millionen Einwohner, Berlin knapp über 200.000). Wie würden wir einen

Arzt beurteilen, der seine Patienten nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft von 1820 behandelte?

Das überholte Staats- und Völkerrecht, insbesondere die völlig obsolet gewordene Lehre und Ansicht von der Souveränität der Staaten, muß reformiert und den heutigen Notwendigkeiten angepaßt werden. Auch die Staaten, also die Völkerrechtssubjekte, sind im Lauf der Geschichte einen contrat social eingegangen, der heute genausowenig funktioniert wie der contrat social zwischen den gesellschaftlichen Schichten und zwischen einzelnen Menschen. Wir sind einfach zu viele geworden, die Resour-cen reichen nicht mehr. Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden.

Die erste Konsequenz müßte sein -man beachte, daß ich hier den Condi-tionalis gebrauche, ich werde später darauf zurückkommen - daß Begriff und Inhalt der staatlichen Souveränität neu gefaßt, daß heißt drastisch beschnitten wird. Sowenig wie ich in meiner Wohnung im dicht besiedelten Quartier noch machen kann, was ich alles will, so wenig sind Staaten über das, was innerhalb ihrer Grenzen vorgeht, nur sich selber verantwortlich. Die Souveränität der Entscheidung über Krieg und Frieden darf (dürfte!) nicht mehr den einzelnen

Staaten oder Regierungen zustehen. Dieses Souveränitätsrecht ist sozusagen ist sozusagen über die Grenzen geflossen und betrifft nun mehr oder weniger alle. Der lose Zusammenschluß der Staaten in der UNO reicht nicht aus, da die UNO-Charta zwar den (Angriffs-) Krieg bannt, nicht aber die Entscheidungssouveränität der einzelnen Staaten antastet.

Es ist immer wieder zu beobachten, daß einzelne Staaten sich Sanktionen mit dem Hinweis, daß es sich bei diesem oder jenen peinlichen Fall um

„innere Angelegenheiten" handle, entziehen. Es darf keine solchen „inneren Angelegenheiten" mehr geben. Wenn die libysche Regierung, also der Polit-Clown Gadhafi, ein Giftgaswerk baut, so ist das keine innere Angelegenheit Libyens mehr. Es muß der Gemeinschaft der Staaten - der

Weltwohlfahrt - gestattet sein, derartiges zu unterbinden, ohne daß sich Libyen auf seine Souveränität berufen kann. Und wenn Firmen in der Bundesrepublik Deutschland oder in England Material dazu liefern, so darf das nicht innere Angelegenheit der betreffenden Staaten bleiben. - denn es betrifft weit mehr. Alle haben das Recht und sogar die Pflicht sich in solche „inneren Angelegenheiten" einzumischen. Wenn Brasilien nicht in der Lage ist, die Rodung des für die Weiterexistenz der ganzen Welt lebensnotwendigen Regenwaldes zu unterbinden, so ist das keine „innere Angelegenheit" Brasiliens. Notfalls müßte daher Brasiliens Souveränität

- Aufschrei der Patrioten hin und her

- aufgehoben und dieser Staat unter Kuratel gestellt werden.

Es ist klar, daß besonders die Völker und Staaten der Dritten Welt, deren Souveränität noch ein so schönes neues Spielzeug ist, besonders empfindlich darauf reagieren, wenn ihre Eigenständigkeit angetastet wird. Sie schreien dann das (mit Recht) verteufelte Wort: „Kolonialismus!" Darauf dürfte erstens keine Rücksicht mehr genommen werden, wenn wir (das heißt: al le, auch die Völker der Dritten Welt) noch weiter auf diesem Planeten leben wollen, und zweitens ist der Schrei

falsch, denn bei der Eingrenzung, der Zurückschneidung der Staatssouveränität handelt es sich um keinen Neo-Kolonialismus, weil das alle Staaten gleichermaßen betrifft.

Zurück zum Conditionalis: Das alles ist Utopie. Der Arzt wird weiter mit der Medizin von 1820 seinen Patienten behandeln, wird Krebs mit Schröpfköpfen und Aderlaß bekämpfen. Wo sollte der humanistische Philosoph als Weltdiktator herkommen, der die Wiederwahlstrategen, Sesselkleber, Obristen, Diktatoren, Geron-tokraten von den Schalthebeln wegrempelt? Außerdem ist es schon zu spät. Die Welt ist eigentlich schon untergegangen, wir glauben es nur noch nicht. Schade um Michelangelos Fresken in der Sixtina und um Mozarts Clarinettenkonzert. Eine kleine Zeitungsglosse wie diese bewirkt nichts. Während sie geschrieben wurde, sind weitere 4.000 Quadratkilometer Regenwald unwiederbringlich vernichtet, das Ozonloch um weitere Kilometer gewachsen, die Meere um weitere (noch) Millimeter gestiegen.

Manchmal habe ich das Gefühl: die da oben, die Wiederwahlstrategen tun desha lb nichts, weil sie in der Gewißheit an ihren Sesseln kleben, daß sie die Katastrophe nicht mehr erleben werden: Erblasser der Sintflut.

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