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Im Kreml regiert die Konspiration

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Während Nixon seine Tour d'horizon absolviert, wartet der Kreml gespannt auf die Resultate dieses euro- . päischen Primärengagements des neuen Herren im Weißen Haus. Die Haltung der Sowjets zu Nixon war bisher erstaunlich widersprüchlich. Im Wahlkampf als „Kalter Krieger“ beschimpft, war deutlich, daß die Sowjets lieber das kleinere Übel Hubert Humphrey als Partner wünschten. Dann, als Nixon gewählt war, gratulierten sie und machten „Triicky Dickie“ Avancen. Sie sahen es nicht ungern, als aus den angekündigten amerikanisch-chinesischen Gesprächen, die unmittelbar nach Nixons Antritt stattfinden sollten, nichts wurde.

Und seither haben sich die Sowjets, abgesehen von den üblichen Propagandatönen ihres weltbolschewistischen Wörterbuchs, Mäßigung auferlegt, wenn sie von und über Nixon sprachen.

Die Europareise Nixons lehrt die Sowjets zwei Tatsachen:

• Erstens ist die Demonstration der Europarease darauf aus, die Hinwendung der US-Politik nach Europa deutlich zu machen, jia, sie mag sogar trotz der europäischen Querelen eine weitgehende Identifikation der USA mit den politischen Gene-ralanliegen von NATO-Westeuropa deutlich machen;

• zweitens ist Nixon in der Präge Berlin nicht zu einer Kursänderung bereit, was das überraschende Angebot Botschafter Zaraipkins am Kanzler Kiesinger begründen kann: Den Sowjets mag die Sturheit ihrer Ost-Berlinar Freunde doch ein wenig zu weit gegangen sein.

Was die Russen unmittelbar brauchen, ist eine Beruhigung aus Washington, daß auch Nixon den Status quo akzeptiert. Und dies gab ihnen hiemiit der neue US-Präsident. Vor allem in seiner Brüsseler Rede deckte Nixon schonungslos seine Kanten auf, so daß die Kreml-Gewaltigen nicht unwissend in die kommenden Auseinandersetzungen gehen können. In der großen Rede ging Nixon vor dem NATO-Rat auf die Problematik des Atlantikpaktes ein. Er forderte von der NATO eine „gewisse Flexibilität“, die für den Fortbestand des Bündnisses erforderlich sei. „Eine moderne Allianz muß ein lebendiges Wesen sein, das zum Wachisen fähig ist und das sich wechselnden Umständen anpassen kann“, sagte er. Unter der Drohung der Sowjets sei die NATO seinerzeit entstanden. Nach zwanzigjährigem Bestehen des Bündnisses müsse die Einheit einer gemeinsamen Furcht jetzt durch die Einheit eines gemeinsamen Zieles ersetzt werden. Nach der Ankündigung der bevorstehenden Gespräche mit der Sowjetunion bekräftigte Nixon seine Ansicht, daß „die Periode der Konfrontation zu Ende geht und daß wir eine Ära der Verhandlungen beginnen“. In angemessener Zeit und mit geeigneter Vorbereitung würden die USA mit der Sowjetunion in Verhandlungen „über einen weiten Bereich von Fragen eintreten, von denen eklige unserer europäischen Verbündeten direkt berührt werden“. Seit dem August 1968 ist die Angst vor einem Losbrechen ihrer Sstelütenfront ein ständig lastender Alptraum der Sowjets. Wissen sie aber, daß auch Nixon nichts tun wird, was der erprobten Nachkriegs-interpretation von Jalta widerspricht, können sie sich wieder anderen außenpolitischen Zielen zuwenden. Was die „Falken“ in Maskau sicherlich als Pluspunkte für eine grundsätzlich harte Außenpolitik werten, ist der Umstand der derzeitigen relativen Beruhigung in der CSSR. Zweifellos ist den Russen das Hauptziel der Intervention gelungen: Die CSSR ist wieder an eine stählerne Kette geschmiedet, die übrigen Block-länder haben den engen Spielraum erkannt, in dem sie sich bewegen dürfen, und der Westen hat statt mannhafter Reaktion nervöses Greinen an den Tag gelegt. Auch die tschechischen Reaktionäre sind im den entscheidenden Gremien der Partei- und Regierungshierarchie etabliert, und trotz latenten Kleinkriegs bekennt sich Prag fast täglich zur sowjetischen Sprachregelung in außenpolitischen Fragen. Der internationale Boykott ebbt langsam ab, und der kommunistische Weitgipfel dürfte nicht Sänger gefährdet sein, wenngleich Diskussionen dort nicht ausgeschlossen werden können.

Aber auch lim Kreml äst es vorläufig nicht zur Machtprobe gekommen. Die „Säuberung“ nach den Augustereignisisen 1968' — von berufsmäßigen Kreml-Astrologen prophezeit — ist nicht eingetreten. Wie überhaupt die Prophetien über den Kreml so lange Unsinn bleiben, solange das Organisationssystem der roten Spitze grundsätzlich „konspi-ratorischen Charakter“ trägt, wie es die „Neue Zürcher Zeitung“ zutreffend formulierte.

Fest steht, daß Breschnjew nach den CSSR-Ereignissen stärker ins außenpolitische Feld gewandert ist und' dem „Technokraiten“ Kossygin die schwierige Innenpolitik überlassen haben dürfte. Dort scheint sich eine ganz langsame und zähe Entwicklung abzuzeichnen, die von wirtschaftlicher Modernisdierung über technische Liberalisierung zu politischer Lockerung in ganz begrenzten Zonen vor sich geht. Im Feld der Wirtschaft Sowjetrußlands allerdings beginnt sich die Problematik an der außenpolitischen Situation zu reiben: Die Rüstungsaufwendungen steigen weiter und belasten die nach Atem ringende Wirtschaft. So mag das Angebot der Russen an Nixion verständlich werden, über Rüstungsbeschränkung ernsthaft zweiseitig zu reden. Allerdings haben sich die Generale der Roten Armee eine sichtbare Tribüne für diese Gespräche geschaffen: Kürzlich kündigte Marschall Moskalenlko an, daß die Rote Armee über mobile Abschußrampen für Interkontinentalraketen mit festem Brennstoff verfüge; ihnen kann feindliche Luftaufklärung nicht beikommen. Überdies verfügen die Sowjets über ein System, nach dem Raketen aus Erdumkreisungen abgefeuert werden können. US-Strategen Weisen schon heute darauf hin, daß die Sowjets bei den Mittelstreckenraketen und in der Raketenabwehr einen deutlichen Vorsprung besitzen. So geht die nächste Runde zwischen Kreml und Weißem Haus um wichtigere Fräsen, als sich die Kleineuropäer denken können.

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