6806455-1972_10_01.jpg
Digital In Arbeit

Umstrittenes, umworbenes China

19451960198020002020

Der abgelaufene Besuch von Präsident Nixon in China war geeignet, Tatsache und Art des seit geraumer Zeit herrschenden dritten Weltkriegs zu verdeutlichen. Niemand wundert sich mehr über die Gleichzeitigkeit der Kämpfe in Indochina und der Gespräche in Peking: man schießt auf- und spricht miteinander; jeder tut also das gleiche— in dialektischer Harmonie. Auf dem Boden dieser schillernden Kombination von Umständen gedeiht jener euphorische Optimismus, mit dem man nunmehr hofft, die Volksrepublik China durch Aufnahme von diplomatischen beziehungsweise De-facto-Beziehungen mit ihr, durch ihre Aufnahme in die Vereinten Nationen und durch freundliche Besuche in die Bahn der gegenwärtigen Weltpolitik lenken zu können.

19451960198020002020

Der abgelaufene Besuch von Präsident Nixon in China war geeignet, Tatsache und Art des seit geraumer Zeit herrschenden dritten Weltkriegs zu verdeutlichen. Niemand wundert sich mehr über die Gleichzeitigkeit der Kämpfe in Indochina und der Gespräche in Peking: man schießt auf- und spricht miteinander; jeder tut also das gleiche— in dialektischer Harmonie. Auf dem Boden dieser schillernden Kombination von Umständen gedeiht jener euphorische Optimismus, mit dem man nunmehr hofft, die Volksrepublik China durch Aufnahme von diplomatischen beziehungsweise De-facto-Beziehungen mit ihr, durch ihre Aufnahme in die Vereinten Nationen und durch freundliche Besuche in die Bahn der gegenwärtigen Weltpolitik lenken zu können.

Werbung
Werbung
Werbung

Die weiterhin bestehenden schwerwiegenden Gründe, die einer solchen Haltung bisher entgegenstanden, bleiben unbeachtet. Darin liegt der große Erfolg der Volksrepublik China: daß sie, ohne ein Jota von den Grundsätzen und Methoden ihrer Politik aufzugeben, sozusagen über Nacht, an die Hebel der Weltpolitik gelangt ist. Diesen Erfolg verdankt sie richtiger psychologischer und politischer Einschätzung sowie harter Konsequenz. Nichts spricht somit dafür, daß sie sich nunmehr eine Abweichung von ihrem bisherigen Weg abgewinnen lassen und so ihre gewaltige taktische Überlegenheit aufgeben wird.

Schon die Reden ihres Chefdelegierten in der Generalversammlung der UNO im November 1971 waren diesbezüglich deutlich genug. In ihr gab Chiao Kuang-hua eine Grundsatzerklärung, deren wesentliche Punkte er in einer zweiten Rede, in der er den sowjetrussischen Vorschlag einer Weltabrüstungskonferenz ebenso glatt wie ironisch abwies, verstärkt wiederholte. Seine Ausführungen liefern den Schlüssel zu der Erkenntnis, daß den zweifellos ehrlichen und aufrichtigen Absichten des amerikanischen Präsidenten kein dauernder Erfolg beschieden sein kann.

Peking hat heute nach allen Seiten freie Hand. Es hält sich aus der Atompolitik und den entsprechenden russisch-amerikanischen vertraglichen Bindungen, ja sogar aus der Internationalen Atombehörde heraus, erklärt sich unter Hinweis auf den gewaltigen Aufmarsch und die nukleare Machtentfaltung im sowjetischen Grenzgebiet für jedermann unschwer einsehbar als bedroht, ergreift die Partei der zukunftsträchtigen Mühseligen und Beladenen der Weltpolitik, das heißt, macht sich zum Anwalt der Dritten Welt, damit nicht zuletzt auch der immer lauter und stärker werdenden Afrikaner in den Vereinigten Staaten und der unterdrückten Volksstämme innerhalb der Sowjetunion und kann nun, umstritten und umworben, sowie mit in Unschuld gewaschenen Händen, ungehemmt von irgendwelchen Verträgen und Statuten, in aller Ruhe seine konventionelle und nukleare Streitmacht vergrößern und verbessern.

Der Kreml hat heute allen Grund, den Nixon-Besuch so gut wie nur möglich herunterzuspielen. Denn wie sein chinesischer Rivale weiß er sehr wohl, daß die trennenden Probleme zwischen diesem und Amerika nach rein machtpolitischen Maßstäben von geringerer Größenordnung sind als jene zwischen ihm und Peking. Zudem ist Nixon unter nicht unerfüllbaren Voraussetzungen bereit, das amerikanische Kriegspotential zu Lande, zu Wasser und in der Luft in Indochina ohne greifbare Gegenleistung von irgendeiner Seite abzubauen, die westpaziflsche Verteidi-gungs- und Sicherheitslinäe durch eine deutliche moralische oder gar materielle Aufgabe Taiwans entscheidend zu lähmen, das Embargo gegen China aufzuheben und so den Chinesen nicht nur den Auf- und

Ausbau ihrer konventionellen und nuklearen Kriegsmaschine materiell zu erleichtern, sondern sich damit auch geradezu an einer Kontrolle von deren wachsendem Ausmaß zu desinteressieren.

Aber gerät Nixon damit nicht unaufhaltsam in die Rolle des Rechners ohne den Wirt, das heißt: ohne die Sowjetunion? Die Einschätzung von Chinas Absichten und nunmehr unheimlich erweiterten Möglichkeiten bleibt zuvörderst und obenan naturgemäß Rußland vorbehalten; denn dieses grenzt an China, ist zudem mit ihm in einen schier unüberwindlichen ideologischen, territorialen und machtpolitischen Konflikt verstrickt und sieht in der gegenwärtigen Lage kaum Anlaß zu bloßem Mißtrauen, sondern eher zu schlichter Sorge um seine Sicherheit, die durch die neue sinophile Politik Washingtons nur vergrößert und vertieft werden kann. Im Falle Washingtons und Pekings liegen, ungeachtet aller Komplexität der zwischen ihnen schwebenden Fragen, die Dinge relativ einfacher; hier fehlt vor allem jede unmittelbare gegenseitige Bedrohung und damit jeder echte Anlaß zu jenen Emotionen, die das Verhältnis zwischen Moskau und Peking eigentlich schon seit Jahrhunderten vergiften. Zwischen der Sowjetunion und China stehen vitale Probleme, die bei beiden an die Wurzel ihrer Existenz greifen, und besteht ein Zustand, in dem Amerika förmlich unwillkürlich eine für Moskau lebensgefährliche Karte in Chinas Hand werden kann. Ganz zu schweigen von dem in der russischen Seele von vornherein tiefsitzenden düsteren Mißtrauen, das von der heiteren Unbefangenheit des Amerikaners weit entfernt ist. Unter solchen Umständen werden Breschnjews Vorbehalte — nach dem Besuch Nixons in Peking weniger denn je — kaum erfüllbarer sein als das vollständige Verbot und die umfassende Vernichtung der nukiearen Waffen, die die Chinesen in der UNO gefordert haben.

Es hieße auf eine gewisse Vollständigkeit der hieher gehörigen Überlegungen verzichten, wollte man die Befürchtungen der Sowjets einfach als reine Propaganda und Taktik in den Wind schlagen. Solange China seinerseits in einer so wesentlichen Frage wie jener der Atomrüstung nichts anderes tut als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion wegen ihrer Behandlung derselben zu tadeln und dem Haß der Dritten Welt preiszugeben, gleichzeitig aber selbst seine nukleare Bewaffnung verstärkt, kann man der russischen Haltung kaum jede objektive Begründung absprechen. Der Kreml wird also bis auf weiteres vom Frieden nur reden. Höflich zwar — aber doch nur reden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung