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Die Vertreibung und die Flucht der Deutschen
Wir haben unsere jüngste Vergangenheit noch immer nicht bewältigt? Liegt es vielleicht daran, daß es 35 Jahre lang tabu war, über gewisse Geschehnisse wahrheitsgemäß zu berichten? Daß auch über bestimmte Mitakteure nicht gesprochen werden durfte, weil sie nicht in das gewohnte Schema paßten? Eines dieser Tabu-Themen war die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten.
Wir haben unsere jüngste Vergangenheit noch immer nicht bewältigt? Liegt es vielleicht daran, daß es 35 Jahre lang tabu war, über gewisse Geschehnisse wahrheitsgemäß zu berichten? Daß auch über bestimmte Mitakteure nicht gesprochen werden durfte, weil sie nicht in das gewohnte Schema paßten? Eines dieser Tabu-Themen war die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten.
Die Schlüsselsätze der fast zweistündigen Diskussion im „Club 2“ des österreichischen Fernsehens fielen erst gegen Ende: „Die Wahrheit zu sagen, ist nicht Revanchismus“, verteidigte Lew Kopelew die Autoren der zweiteiligen Fernseh-Dokumentation „Flucht und Vertreibung“ gegen Angriffe aus Prag.
Vorher hatte er sich gegen die „Kettenreaktion des Hasses, der sich stets gegen Schuldlose richtet“, ausgesprochen - der weißbärtige Germanist, der schon in den Tagen des Einmarsches der Sowjetarmee nach Ostpreußen gegen die Untaten seiner eigenen Kameraden aufgetreten und daraufhin wegen „Mitleids mit dem Feind“ nach Sibirien verbannt worden war.
Erst vor wenigen Tagen war er von seiner eigenen Regierung ausgebürgert worden - aber nun lehnte er sich dagegen auf, daß „die Russen“ ebenso kollektiv angeklagt würden wie „die Deutschen“. Hier wie dort habe es Lumpen, Verbrecher, Verführte gegeben - die Mehrheit sei anständig geblieben.
Die Verbrechen der einen gegen die der anderen aufzurechnen, ist unzuläs
sig - darüber waren sich die Autoren der Dokumentation wie die Diskutanten im „Club 2“ einig.
Und doch scheint es unendlich schwer zu sein, nicht in die Polemik zu münden: „Ihr habt angefangen ...“ und „Ihr habt aber auch ...!“ Der sudetendeutsche Heimatvertriebene und der tschechische Emigrant standen offenbar für viele, die noch lange brauchen werden, um diese „Kettenreaktion des Hasses“ unterbrechen zu können.
Mußten wirklich 35 Jahre vergehen, bevor man daran gehen konnte, die Wahrheit zu dokumentieren - auch jene, die wenig schmeichelhaft für die Sieger war? Liegt hier der Grund, daß der Vorwurf, man habe die Vergangenheit noch immer nicht bewältigt, seine Richtigkeit besitzt?
Eva Berthold, die sympathische Autorin der deutschen Fernsehserie, ließ ganz zum Schluß - quasi in einem Nebensatz - eine Deutung für diese Verdrängung durchscheinen:
Die amerikanischen Geiseln wurden nun, nach ihrer Freilassung, nicht nur medizinisch, sondern auch psychiatrisch betreut, dann von der ganzen Nation aufgenommen - auch um ihnen zu helfen, den Haß gegen ihre Wächter und deren Auftraggeber abzubauen.
Die Flüchtlinge, die Vertriebenen von 1945, die Heimkehrer aus der Gefangenschaft wurden damals nicht „aufgenommen“. Dreißig Jahre lang mußten sie hören: Das habt ihr euch selbst zuzuschreiben! Ihr wart schuld...
Nun sagte Kopelew: „Kein Volk ist an einem Krieg schuld. Schuld sind die Regierungen, die (totalitären) Parteien.“
Wäre es früher leichter gewesen, auch die Ursachen in die Diskussion einzubeziehen, wenn man außer über Auschwitz und den Kommissarsbefehl auch über Dresden und Ilja Ehrenburgs „Ubej!“ - Töte! gesprochen hätte?
Nun blätterte Erika Weinzierl auf, wie es zu all dem gekommen war und was zum besseren Verständnis ebenso bewußt werden sollte wie die Tatsache
von Flucht und Vertreibung überhaupt.
Die Dokumentation hatte manche Aspekte der Vorgeschichte gebracht, andere hätte man sich deutlicher gewünscht - aber die Autorin wollte nicht „die Geschichte“, „die Politik“ dieser Jahre behandeln, sondern die Menschen zeigen, die darunter zu leiden hatten. Sie wollte „die Statistik lebendig werden lassen“.
Statistik - das sind die 14 Millionen Deutschen, die zwischen 1939 und 1947 ihre Heimat im Osten verlassen mußten. Das sind die zwei Millionen Flüchtlinge, die von Ostpreußen aus übers Meer in Sicherheit gebracht wurden - aber auch die 16.000, die mit zwei torpedierten Transportschiffen untergingen.
Statistik - das sind auch die von Stalin deportierten Wolgadeutschen und Krimtataren, die bis heute noch nicht in ihre Heimat zurückkehren durften - Kopelew erinnerte an sie. Das sind aber auch die 35 Millionen Soldaten aller Armeen, die in jenem Krieg als Gefangene hinter Stacheldraht saßen.
Eva Berthold wollte die Menschen zeigen: den Buben, der allein mit seinem Bündel zwischen Ruinen herumirrt; die Frau mit dem völlig verstörten Gesicht; die Überlebenden, die sich nun, 35 Jahre später, zurückerinnern.
Das Leiden jener Menschen war dadurch nicht leichter zu ertragen, daß Hitler schon vor Kriegsbeginn die Aussiedlung der slawischen Völker aus dem künftigen großdeutschen Siedlungsraum im Osten angekündigt hatte, aber auch nicht dadurch, daß Lenin den Versailler Vertrag schon 1918 als „Raubfrieden“ bezeichnet hatte.
Für die Sterbenden in Dresden war es belanglos, daß die Alliierten den Mor- genthaupian über die Aufteilung Deutschlands noch vor Kriegsende fal
len gelassen hatten - da hatte er schon als ideales Demonstrationsobjekt für die Goebbelsche Durchhaltepropaganda gedient.
„ Wahrheit ist nicht Revanchismus“, sagte Lew Kopelew, und: „Wir dürfen aber nicht das Recht der Toten dem Recht der Lebenden entgegensetzen.“ Das Bekenntnis zur (alten) Heimat darf nicht auf Kosten jener gehen, die in diesen 35 Jahren dort eine neue Heimat gefunden haben.
Und die aus Danzig vertriebene, in Wien längst integrierte Teilnehmerin versicherte: „Wir zittern heute mit den Polen, die in .unserem* alten Haus wohnen.“
Was die Dokumentation in Bildern zeigte, schildern auch Frank Grube und Gerhard Richter im Buch, das die Völkerwanderung der Deutschen aus dem Osten zwischen 1938 und 1947 festhält (siehe auch FURCHE Nr. 34/1980). Eine eigene Dokumentation über die Gefangenen soll folgen, kündigte Eva Berthold an - auch hierfür gibt es bereits Literatur.
Alles zusammen sollte mithelfen, die „beiderseitige Schamarbeit“ zu leisten, die Franz Kreuzer als geübter Diskussionsleiter forderte, um die „Kettenreaktion des Hasses“ endlich zu unterbrechen.
„Wer die Geschichte vergißt, wird sie wieder erleben“, warnte Kopelew.
Und Erika Weinzierl stimmte ihm zu: Ein Volk ohne Gedächtnis sei arg.
Hat sie aber auch mit ihrer resignierenden Schlußbemerkung recht, daß Erfahrung nicht vermittelbar sei? Aus der Geschichte lernen werden wir - wenn überhaupt - sicherlich nur dann können, wenn sie auf beiden Seiten ohne Tabu aufgeblättert wird.
FLUCHT UND VERTREIBUNG (Deutschland zwischen 1944 und 1947). Von Frank Grube und Gerhard Richter (hg.); Hoffmann und Campe, 1980,240 Seiten, öS 292,60
DIE GEFANGENEN (Leben und überleben deutscher Soldaten hinter Stacheldraht). Von Paul Carrell und Günter Böddeker. Ullstein, 1980, 383 Seiten, öS 277,20
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