7091549-1994_30_15.jpg
Digital In Arbeit

Die Rache Hitlers war fürchterlich

19451960198020002020

In der Geschichte des II. Weltkriegs spielt Warschau eine besonders tragische Rolle. Teilweise wurde die Stadt dem Erdboden gleichgemacht.

19451960198020002020

In der Geschichte des II. Weltkriegs spielt Warschau eine besonders tragische Rolle. Teilweise wurde die Stadt dem Erdboden gleichgemacht.

Werbung
Werbung
Werbung

Dem Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto im Frühjahr 1943 fielen mehr als 50.000 Menschen zum Opfer. Nachher wurde das Ghetto von den Deutschen liquidiert: ganze Stadtviertel wurden systematisch zerstört und die Überlebenden in Vernichtungslager gebracht.

Und dann kam das Schicksalsjahr für Hitlers „neues Europa", das Jahr 1944. Die deutsche militärische Kraft war bereits gebrochen, das Rückgrat der Hitlerischen Wehrmacht in den weiten Gebieten der Sowjetunion vernichtet. Im Juni 1944 erfolgte die Invasion der Westmächte in der Normandie (furche-Dossier 22/1994), die man nicht mehr zurückschlagen konnte. In Italien tobte der Kampf unweit von Rom. Ende Juli 1944 näherte sich die Rote Armee Warschau. Die Deutschen beabsichtigten, weil ihnen zu einer Stadtverteidigung die Kräfte fehlten, Warschau zu verlassen. Die Gestapo und der Sicherheitsdienst begannen bereits ihre Archive zu vernichten. In Warschau wuchs die Unruhe. Über die Weichselbrücken strömten ungeordnet deutsche Einheiten aus Richtung Osten. Der deutsche Bürgermeister von Warschau verließ samt Familie die Stadt. Die Bahnhöfe wurden gestürmt: unter den deutschen Zivilisten brach Panik aus. Polen, die bis jetzt mit den Deutschen „gute Geschäfte" machten und sich mit Becht Rache befürchteten, versuchten rechtzeitig nach Westen zu entkommen.

Diese Situation vor Augen und in der Gewißheit, daß ein offener Widerstand Warschaus Refreiung nur vorantreiben könnte, entschloß sich die Leitung der polnischen Heimatarmee, einen bewaffneten Aufstand in der Stadt zu inszenieren. Aus Lub-lin wurden durch die dort ansässigen rotpolnischen Propagandasender Ende Juli 1944 die Warschauer aufgerufen, ihr Schicksal selbst in die Hände zu nehmen und die fremden Besatzer zu vertreiben; die Rote Armee sei auf Warschau angesetzt, die Befreiung stehe vor der Tür.

Angeblich - die Sachlage ist bis heute nicht geklärt - schickte das Oberkommando der sowjetischen Heeresgruppe des Marschalls Rokos-sowskij selbst einen Stabsoffizier nach Warschau, um dort mit der Führung der Heimatarmee im Interesse eines bewaffneten Aufstandes die Koordination der gemeinsamen Operationen gegen die Wehrmacht zu besprechen. Heute ist aber bewiesen, daß maßgebliche Persönlichkeiten der polnischen Exilregierung den Leiter der Heimatarmee, General Tadeusz Bor-Komorowski, warnten. Sie schenkten Stalin keinen Glauben und hielten es für verfrüht, wenn General Bor-Komorowski schon jetzt losschlagen würde. Die West-Alliierten wollten kein Blutbad in Warschau: helfen konnten sie kaum, sie waren vollends mit den Kämpfen in Frankreich gebunden. Was nachher kam, war mehr als ein Kriegsdrama. Es war das Preludium zum Kalten Krieg zwischen Ost und West in der Nachkriegszeit.

In Warschau begann sich der nationale polnische Widerstand zu rühren. General Bor-Komorowski verbündete sich mit einzelnen kommunistisch-polnischen Partisanen, um sich das Wohlwollen der Roten Armee zu sichern. Er war sich der politischen Bedeutung seines Vorhabens bewußt. Mit der äußeren Unterstützung der anrückenden Truppen der sowjetischen Heeresgruppe sollten die „Bürgerlichen" - richtig: die Vertreter der Exil-Regierung -in Warschau rechtzeitig die Macht erringen, die Besetzer mit Waffengewalt vertreiben und vor der Welt die selbst befreite Stadt als Metropole der freien und unabhängigen Polnischen Republik dokumentieren.

Am 25. Juli 1944 wurden die Bewohner Warschaus von Geschützdonner geweckt. Die Erste Bjelorus-sische Front (Heeresgruppe) unter Marschall Konstantin Rokossowski befand sich im Anmarsch auf Warschau. Zwei Tage später kamen die bereits erwähnten Rundfunkaufrufe aus dem sowjetischen Machtbereich: Erhebt Euch, Ihr Polen. Die Refreiung naht mit Riesenschritten.

In der Heimat-Armee herrschte Eu-Shorie. Es schien, als ob tatsächlich ie Sowjets das Kriegsbeil gegen die Exil-Regierung begraben hätten. Am 31. Juli 1944 gab General Bor-Komorowski den Befehl zum Aufstand. Ob dies mit der Londoner Exil-Regierung abgesprochen worden war, ist unklar. Die Heimat-Armee hatte insgeheim in den letzten Wochen etwa 20.000 Männer und Frauen in die Stadt eingeschleust.

Am 1. August - planmäßig -abends um 17 Uhr wurden alle strategischen Punkte der Stadt besetzt. Nach weiteren 24 Stunden kontrollierte die Heimat-Armee etwa 50 Prozent Warschaus. Die Überraschung der Deutschen war groß, ihr Widerstand vorerst äußerst gering. Die deutsche Wehrmacht befand sich auf dem Rückzug, nur einzelne Truppen leisteten der Roten Armee Widerstand — so auch eine Waffen-SS-Division östlich der Warschauer Vorstadt Praga, die den direkten Weg über die Weichsel in das Innere der Stadt deckte.

Und siehe da, Rokossowskis Truppen blieben vor Praga liegen. Sie stellten ihre Offensive ein und nahmen eine Defensiv-Formation ein. In seinen Memoiren bezeichnete Rokossowski Ende der sechziger Jahre den Warschauer Aufstand als ein „wahnwitziges Abenteuer unreifer polnischer Militärs" und als die Tat des verzweifelten Versuchs der Londoner „Machthaber" ^Exilregierung), Warschau in ihren Händen zu wissen. Rokossowski beruft sich ferner auf „große Nachschubschwierigkeiten" seiner Heeresgruppe, die gerade vor Warschau eine „Pause" einlegen mußte. Daß diese Pause beinahe sechs Wochen dauerte, konnte bis jetzt mit militärischen Gründen nicht erklärt werden.

Am 5. August sah man im Oberkommando der deutschen 9. Armee ein, daß die Sowjets nicht gewillt waren, den aufständischen Polen Hilfe zu leisten. Nun sollte Warschau doch gehalten werden. Ein Gegenschlag — geführt von SS-Obergruppenführer Bach-Zelewski - sollte den Aufstand niederschlagen. Er verfügte nur über wenige reguläre Truppen. Das Gros seiner „Streitmacht" bildeten Polizei-Einheiten, Strafbataillons sowie ukrainische und turkmenische Hilfstruppen der SS, die blindlings den Deutschen ergeben waren und obendrein die Polen als persönliche Feinde betrachteten. Bach-Zelewski sagte während des Nürnberger Kriegstribunals (1946) vor seinen Richtern aus, der Reichsführer-SS Heinrich Himmler habe ihn persönlich angewiesen, die Heimat-Armee in Warschau als Randiten zu behandeln. Das hieß: keine Gefangene zu machen und Warschau total zu verwüsten. Da die Zivilbevölkerung mit der Heimat-Armee unter einer Decke steckte, dürfe man auf sie keine Rücksicht nehmen. Anfangs führte der Waffen-SS General diesen Befehl widerstandslos auch aus.

Die Heimat-Armee war nicht für eine längere Militäroperation vorbereitet. Bereits nach fünf Tagen mußte man mit Munition und Medikamenten sparen. Aus London erhoffte Bor-Komorowski Hilfe und Unterstützung. Bis zum 11. August erschienen lediglich fünf britische

Flugzeuge mit Nachschub-„Bomben' über Warschau. Es war ein waghalsiges Unternehmen, denn die Bomber mußten ihre Maschinen aus Süd-Italien und über Feindesgebiet nach Warschau bringen — und auf derselben Route auch zurückfliegen. Die Versorgung der Aufständischen in Warschau wurde immer prekärer.

Die Erste Bjelorussische Front blieb weiterhin untätig im Raum Praga. Rokossowski ging erst zur neuen Offensive über, als die Aufständischen immer mehr in der Innenstadt von Warschau zusammengedrängt worden waren und General Bor-Komorowski am 13. September bereits Kapitulationsverhandlungen mit SS-Obergruppenführer Bach-Zelewski eingeleitet hatte. Am 15. September tauchten die ersten Rotarmisten in Praga auf. Jetzt hofften die Aufständischen, daß Rokossowski die Weichsel übersetzen würde. Dies traf aber nicht ein. Lediglich die unter General Berling im Bahmen der Ersten Bjelorussischen Front tätige polnische kommunistische Division Kosciuszko warf sechs Bataillone über die Weichsel, rnußte aber zurückweichen.

Nun gab Stalin sowjetische Flugplätze frei zum Auftanken von alliierten Transportflugzeugen (siehe sowjetisches Propagandafoto). Aber auch diese Flüge mußten Ende September 1944 gänzlich eingestellt werden, da die Deutschen in Warschau zu ihrer letzten Offensive antraten. Die am 29. September begonnenen Kapitulationsverhandlungen Bor-Komo-rowskis endeten am 2. Oktober mit der Waffenstreckung der Aufständischen. Bor-Komorowski konnte eine ehrenhafte Kapitulation aushandeln. Die sich ergebenden Aufständischen sollten danach nicht als Banditen behandelt und erschossen, sondern als Teile regulärer Armeen in Kriegsgefangenschaft abgeführt werden. Der SS-Obergruppenführer versprach auch Schonung der Zivilbevölkerung.

Der 63 Tage dauernde Aufstand kostete die Heimat-Armee etwa 22.000 Gefallene und Verwundete. Noch schlimmer stand es um die Zivilbevölkerung. In der ersten Etappe des Aufstandes machten SS-Hilfstruppen regelrecht Jagd auf Zivilisten und erschossen sie wahllos: insgesamt hatte Warschau etwa 150.Q00 Bürger als Opfer zu beklagen. Hitler nahm fürchterliche Rache an Warschau. In einem Refehl vom 11. Oktober 1944 verordnete er, den Rest von Warschau dem Erdboden gleichzumachen. Dies wurde auch teilweise ausgeführt. Als am 18. Jänner 1945 die Rote Armee die Weichsel überschritt, war die Stadt zu 90 Prozent zerstört.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung