6750738-1967_27_03.jpg
Digital In Arbeit

Der schwerwiegende Entschluß

Werbung
Werbung
Werbung

Am 27. September 1936 wurde Gerstein von der Gestapo verhaftet. Er hatte 8500 auf eigene Kosten gedruckte Broschüren an sämtliche Ministerialbeamte und hohe Justizbeamte verschickt. Er wurde aus der NSDAP ausgestoßen, verlor seinen Staatsposten. Nach der Entlassung, durch das Erbteil seiner Mutter wirtschaftlich unabhängig geworden, studierte er Medizin. In der Folgezeit druckte er aus eigenen Mitteln 230.000 religiöse und NS-feindliche Broschüren. Am 14. Juli 1938 zum zweiten Male verhaftet, brachte er auch acht Wochen im KZ Welzheim zu.

Gerüchte gingen um von Tötungen; die eigene Schwägerin, Bertha Ebeling, verstarb in der Heilanstalt unter merkwürdigen Umständen. Da faßte Kurt Gerstein den schwerwiegenden Entschluß, in die Höhle des Löwen zu gehen. Im September 1940 suchte er um Aufnahme in die SS an, „um denen in den Topf zu gucken, was die kochten“. Auch wollte er sich der lästigen Beaufsichtigung durch die politische Polizei entziehen und wußte, daß er als SS-Mann größere Bewegungsfreiheit für seine Antinazi-Betätigung haben würde. Es glang ihm, die SS zu täuschen, „die Herren waren der Ansicht, daß mein Idealismus, den sie wohl bewunderten, der Nazisache zugute kommen müßte“, schrieb Gerstein. Am 10. März 1941 wurde er aufgenommen. Eine westdeutsche Justizbehörde hat diese ehrlichen Motive Gersteins angezweifelt und ihn unter die Kriegsverbrecher eingestuft. Nun gibt es einen einwandfreien Zeugen. Kirchenrat O. Wehr bezeugt: „Nach seiner Entlassung aus dem KZ überraschte er mich eines Tages mit dem Plan, in die SS einzutreten. Meinen sehr starken Bedenken gegen diesen Plan, in das Lager der dämonischen Mächte hineinzugehen, begegnete er mit leidenschaftlicher Entschlossenheit. Bei der den ganzen Menschen Kurt Gerstein charakterisierenden impulsiven

Aktivität konnte es nicht zweifelhaft sein, daß es ihm mit seinen ganz ungewöhnlichen Gaben und Fähigkeiten gelingen würde, dahin zu kommen, wohin er wollte: in die Reichsführung der SS. Die geradezu unheimliche Meisterschaft der Tarnung seiner innersten christlichen Existenz durch einen zur Schau getragenen äußeren Habitus, zu keinem anderen Zweck als zu helfen, spottet aller normalen Maßstäbe. Für die Meisterschaft in der Tarnung seines eigentlichen Wollens habe ich genügend Beispiele. Mir ist aus den seelsorgerischen Gesprächen mit ihm, zu denen er mich aufsuchte, die Konstantheit seines innersten Wesens niemals zweifelhaft gewesen.“ ,

Während seiner Ausbildungszeit in Holland nahm Gerstein zur dortigen Widerstandsbewegung Kontakt auf. Durch seine technische und medizinische Vorbildung gelang ihm das Eindringen in die Reichsleitung der SS, als Abteilungsleiter für Gesundheitstechnik.

Im Juni 1942 erhielt Gerstein den Auftrag, sich 100 Kilogramm Blausäure zu verschaffen und sich für eine streng geheime Reise bereitzuhalten. Am 18. August 1942, im KZ Belzec, in Polen, sah Kurt Gerstein die Hölle mit eigenen Augen: die Vergasung eines Transports von 5000 Menschen, damals noch mit Motorauspuffgasen. Er ist sich bewußt, der einzige Zeuge zu sein; der darüber berichten wird. Er fühlt eine Sendung, eine Verpflichtung, die ihm auferlegt ist, Aug und Ohr fürs Gewissen der Welt zu sein. Er darf nicht fühlen, nicht denken, nur registrieren, um Zeugenschaft abzulegen, um zu retten, um anzuklagen. Dieses Wissen um seine Sendung gibt ihm übermenschliche Kräfte, was er sieht, in sein Gehirn minuziös einzugraben, der Dante eines Infernos zu werden, wie es keine menschliche Phantasie hätte erfinden können:

„Der erste Zug von Lemberg... 45 Waggons mit 6700 Menschen, von denen 1450 schon tot waren bei ihrer Ankunft. Hinter den vergitterten Luken schauten, entsetzlich bleich und ängstlich, Kinder durch, die Augen voll Todesangst, ferner Männer und Frauen. Der Zug fährt ein: 200 Ukrainer reißen die Türen auf und peitschen die Leute mit ihren Lederpeitschen aus ihren Waggons heraus. Ein großer Lautsprecher gibt die weiteren Anweisungen: sich ganz auszuziehen, auch Prothesen, Brillen abzulegen, die Wertsachen am Schalter abzugeben, ohne Bons oder Quittung. Die Schuhe sorgfältig zusammenzubinden (wegen der Spinnstoffsammlung), denn in dem Haufen von reichlich 25 Meter Höhe hätte sonst niemand die zugehörigen Schuhe wieder zusammenfinden können. Dann die Frauen und Mädchen zum Friseur, der mit zwei, drei Scherenschlägen die ganzen Haare abschneidet und sie in Kartoffelsäk-ken verschwinden läßt. „Das ist für irgendwelche Spezialzwecke für die U-Boote bestimmt...“, sagt mir der SS-Unterscharführer, der dort Dienst tut.

„Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Voran ein bildhübsches junges Mädchen, so gehen sie die Allee entlang, alle nackt, Männer, Frauen, Kinder, ohne Prothesen. Ich selbst stehe mit dem Hauptmann Wirth oben auf der Rampe zwischen den Kammern. Mütter mit ihren Säuglängen an der Brust, sie kommen herauf, zögern, treten ein in die Todeskammern! — An der Ecke steht ein starker SS-Mann, der mit pastoraler Stimme zu den Armen sagt: Es passiert euch nicht das Geringste! Ihr müßt nur in den Kammern tief Atem holen, das weitet die Lungen, diese Inhalation ist notwendig wegen der Krankheiten und Seuchen... Für einige von diesen Armen ein kleiner Hoffnungsschimmer, der ausreicht, daß sie ohne Widerstand die paar Schritte zu den Kammern gehen — die Mehrzahl weiß Bescheid, der Geruch kündet ihnen ihr Los! — So steigen sie die kleine Treppe herauf und dann sehen sie alles. Mütter mit Kindern an der Brust, kleine nackte Kinder, Erwachsene, Männer und Frauen, alle nackt — sie zögern, aber sie treten in die Todeskammern, von den anderen hinter ihnen vorgeschoben oder von den Lederpeitschen der SS getrieben. Die Mehrzahl, ohne ein Wort zu sagen. — Viele Menschen beten. Ich bete mit ihnen, ich drücke mich in eine Ecke und schreie laut zu meinem und ihrem Gott. Wie gern wäre ich mit ihnen in die Kammern gegangen, wie gern wäre ich ihren Tod mitgestorben.Sie hätten dann einen uniformierten SS-Offizier in ihren Kammern gefunden — die Sache wäre als Unglücksfall aufgefaßt und behandelt worden und sang- und klanglos verschollen. Noch also darf ich nicht, ich muß noch zuvor künden, was ich hier erlebe! Die Kammern füllen sich. Gut vollpacken — so hat es der Hauptmann Wirth befohlen. Die Menschen stehen einander auf den Füßen. 700 bis 800 auf 25 Quadratmetern, in 45 Kubikmetern! Die SS zwängt sie physisch zusammen, soweit es überhaupt geht. — Die Türen schließen sich. Währenddessen warten die anderen draußen im Freien, nackt. Mit den Dieselauspuffgasen sollen die Menschen zu Tode gebracht werden. Aber der Diesel funktioniert nicht! ... Jawohl, ich sehe alles! Und ich warte. Meine Stoppuhr hat alles brav registriert. 50 Minuten, 70 Minuten — der Diesel springt nicht an! Die Menschen warten in ihren Gaskammern umsonst.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung