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...nach 32 Minuten ist endlich alles tot!

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Man hört sie weinen, schluchzen ... Nach zwei Stunden 49 Minuten — die Stoppuhr hat alles wohl registriert — springt der Diesel an. Bis zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen vier Kammern, viermal 750 Menschen in viermal 45 Kubikmetern! — Von neuem verstreichen 25 Minuten. Richtig, viele sind jetzt tot. Man sieht das durch das kleine Fensterchen, in dem das elektrische Licht die Kammer einen Augenblick beleuchtet. Nach achtundzwanzig Minuten leben nur noch wenige. Endlich, nach 32 Minuten, ist alles tot!...

„Von der anderen Seite öffnen Männer vom Arbeitskommando die Holztüren ... Wie Basaltsäulen stehen die Toten aufrecht aneinander gepreßt in den Kammern. Es wäre auch kein Platz, hinzufallen oder auch nur sich vornüber zu neigen. Selbst im Tode noch kennt man die Familien. Sie drücken sich, im Tode verkrampft, noch die Hände, so daß man Mühe hat, sie auseinanderzureißen, um die Kammern für die nächste Charge freizumachen.“

Gerstein wußte, er war der einzige Aniünazi, der die Maschinerie der Massenvernichtung in Aktion gesehen hatte. Man mußte den Tötungsdämonen in den Arm fallen! Man mußte ihnen Opfer entreißen! Dieser Aufgabe widmete er nun seine ganze Energie. Er glaubte an das Gewissen und seine Macht. Das schwedische Außenministerium bestätigte später: „Gerstein erklärte, er sei bestrebt, diese Zustände neutralen Beobachtern zur Kenntnis zu bringen, und sei fest davon überzeugt, sobald die Tatsache dieser Ausrottung breiten Schichten der deutschen Bevölkerung bekannt und von unparteiischen Ausländern bestätigt würde, dulde das deutsche Volk das Naziregime keinen Tag länger.“ Dr. Helmut Franz, in ständigem Kontakt mit Gerstein, berichtet: „Zum Zeitpunkt meines Besuches lag dieses Erlebnis gerade mehrere Wochen hinter ihm. Er berichtete mir alles mit allen Einzelheiten ... Er war natürlich durch und durch aufgewühlt. Und doch war sein seelischer Zustand jetzt ein ganz anderer als noch wenige Monate zuvor. An der Stelle des pessimistisch-verzweifelten und im Gefühl lähmender Ungewißheit planlos umherirrenden Menschen war jetzt ein Mann getreten, der bei aller Entsetztheit über das Geschehen doch von einem unbändigen Auftragsbewußtsein in einer ungeheuren historischen Situation erfüllt war...“

In der Folgezeit hat Gerstein unter Risiko des eigenen Lebens zu Hunderten von Menschen über die Vergasungen gesprochen. Die erste Gelegenheit bot sich ihm zwei Tage nach seinem Erlebnis, als er im Schlafwagen von Warschau nach Berlin mit dem schwedischen Botschaftssekretär in Berlin, Baron von Otter, zusammentraf. Gerstein berief sich auf Bischof Dibelius in Berlin, bat Otter, den Bericht an das britische Außenministerium weiterzuleben, öfter noch hat Gerstein seine Berichte, durch die holländische Widerstandsbewegung und durch Diplomaten neutraler Länder, an das Foreign Office in London geschickt. Dort blieben sie liegen, und nichts weiter geschah. Nie wurde seine Annahme auf die Probe gestellt, ein Weltprotest würde die Verantwortlichen zum Einhalten in ihrer geplanten Massenvernichtung zwingen.

Bittere Realität und schwere Gewissenskonflikte führten zu einer Reifung der Persönlichkeit. Zum Kriegsgeschehen war keine zwiespältige Haltung mehr möglich. Eindeutig und mit aller Leidenschaft mußte man eine Niederlage wünschen und anstreben; „selbst ein hundertfaches Versailles ist für das deutsche Volk Immer noch besser, als es ein Sieg der Nazi wäre.“ Seinem Vater schrieb er am 5. März 1944: „Tief erschreckt hat mich Dein Wort, das Du mir in einem bitteren Augenblick meines Lebens zuriefst, als ich mit schwersten Dingen rang: Harte Zeiten erfordern harte Mittel! — Nein, ein solches Wort reicht nicht aus, um Geschehenes vertretbar zu machen. Mögen dem einzelnen auch noch so enge Grenzen gesetzt sein... nie darf er sich seinem Gewissen und der ihm gesetzten obersten Ordnung gegenüber darauf herausreden vor sich selbst: Das geht mich nichts an, das kann ich nicht ändern. — Sileat, sed cogdtet: mea res agitur, ich stehe in dieser Verantwortung und in dieser Schuld, und zwar als ein Wissender mit entsprechendem Maß an Verantwortung.“

Der letzte Lebensabschnitt Gersteins ist in Dunkel gehüllt. In den letzten Kriegswochen gelang es ihm, sich zu den Franzosen abzusetzen. Vom 26. April bis 5. Mai 1945 arbeitete er an seinem Bericht, der dann den Amerikanern ausgehändigt wurde. Gerstein wurde später nach Paris gebracht, und soll sich am 25. Juli 1945 im dortigen Militärgefängnis Du Gherche Midi erhängt haben. Die Behörden haben Einblick in ihr Archiv verweigert, so Konnten die Umstände seines Todes bis heute nicht geklärt werden. Die größte Ungeheuerlichkeit wurde ihm nach seinem Tode zugefügt: Eine bundesdeutsche Behörde, die Spruchkammer in Tübingen, machte dem toten Kurt Gerstein faktisch den Prozeß. Trotz aller gegenteiliger Beweise und Zeugenaussagen, die ihr vorlagen,darunter von Kirchenpräsident Niemöller, Bischof Dibelius, Bundestagspräsident Dr. Ehlers, wurde Gerstein zum Kriegsverbrecher erklärt! Dies geschah 1950. Gegen Gestapoehef Heydrich wurde kein solches Verfahren eingeleitet. Trotz Protestes wurde das Urteil bestätigt und 14 Jahre lang bllieb das Bemühen der Witwe und Freunde Gersteins um seine Rehabilitierung erfolglos.

1964 hatte sich die Affäre Gerstein zu einem Skandal für die Bundesrepublik ausgewachsen. Der Ruf nach Gerechtigkeit, besonders im Ausland, war nicht mehr zu überhören. So gab schließlicn Kurt Georg Kiesinger am 27. Februar 1Ö65 eine öffentliche Erklärung über die Umstufung Gersteins aus der Gruppe der Belasteten in die Gruppe der Entlasteten ab. Dies sah nach einer Rehabilitierung aus. In Wirklichkeit äst bis zum heutigen Tage Kurt Gerstein und seinen Hinterbliebenen weder in materieller noch in moralischer Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren.

Avner Less, der israelischs Untersuchungsrichter der Eichmann-Voruntersuchung, stützte sich in den vielen Verhören mit Eichmann hauptsächlich auf das Dokument, das als „Gersteln-Bericht“ in die Geschichte eingegangen ist. In Kurt Gerstein Sieht Avner Less eine Art Spiegel des Gewissens. Avner Less äußerte sich, daß es sich im Verhalten der Deutschen zu Kurt Gerstein, also auch zu einer echten Rehabilitierung, zeigen werde, ob die Wandlung in Deutschland echt oder nur scheinbar sei.

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