6750738-1967_27_03.jpg
Digital In Arbeit

Der „Fall Gerstein“

Werbung
Werbung
Werbung

In einer deutschen Schulklasse wurde Hochhuths „Stellvertreter“ besprochen. Als der Lehrer fragte, welche der Figuren des Dramas erdichtet und welche historisch sein könnten, war die einhellige Meinung der Klasse, Gerstein könne keine wirkliche Person gewesen sein, sondern gehöre zu den erdichteten.

Verschiedentlich wurde Kurt Gerstein „ein Gerechter unter Gottlosen“, „Spion Gottes“, „SS Mann Gottes“ genannt. Am einfachsten sollte man ihn als das bezeichnen, was er selber sein wollte: Stimme des Gewissens. Er glaubte ans Gewissen der Welt. Als Stimme des Gewissens wollte Gerstein zu seiner Zeit wirken; als Stimme des Gewissens bleibt er in unserer Zeit ebenso aktuell, wie er es zu seiner Zeit war.

Kurt Gerstein schien nicht für die Rolle eines Rebellen prädestiniert zu sein. Er wurde 1905 in Münster als Sohn eines Richters in einer traditionstreuen, national betonten Familie geboren, für die in Rechtschaffenheit leben der Obrigkeit Untertan sein hieß. Seine ersten religiösen Erlebnisse empfing das Kind nicht aus dem Kreise seiner eigenen, der evangelischen Kirche; sie wurden ihm durch ein katholisches Dienstmädchen vermittelt. Das Leben des Knaben und jungen Mannes verlief unauffällig. Ein begabter Schüler und Student, wurde er 1931 Diplomingenieur und 1935, nach bestandenem Examen, Bergassessor. Politisch muß sich Gerstein so wenig im Widerspruch mit dem Regime befunden haben, daß er 1933 in die nationalsozialistische Partei eintreten konnte.

Innerlich war Gerstein von religiösen Problemen bewegt. Erst vom Katholizismus angezogen, während des Studiums Atheist, kehrte er zur evangelischen Kirche zurück und wurde sehr aktiv in der evangelischen Jugendbewegung. Religiöse Überzeugung bedeutete für ihn Einheit von Glauben und Handeln, aktives Christentum, die Verantwortung für den Nächsten. „Wo ist dein Bruder?“ wurde zum Leitsatz seines Lebens als Mensch und Christ. Aus dieser Einstellung mußte sich sehr bald ein Gegensatz zum nationalsozialistischen Staat ergeben und zu immer größerer Gegnerschaft führen; bei der Wesensart Gersteins von der geistigen Auseinandersetzung und der Ablehnung des Regimes zur aktiven Betätigung gegen das Regime.

Nach der versuchten GleichschalT tung der evangelischen Jugendverbände fand er es richtiger, den Verband aufzulösen, als Konzessionen an die Nazi zu machen. 1934, für Zwischenrufe während einer Nazi-Jugend Veranstaltung, schlug ihm die Hitlerjugend zwei Zähne aus. „Glauben heißt bereit sein, sich die Knochen kaputt schlagen zu lassen“, war sein Kommentar.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung