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„Einer ist schon zuviel...

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Auf rund 10.000 wird die Zahl derer geschätzt, die in der UdSSR aus politischen Gründen inhaftiert sind. Anläßlich der 1980 in Moskau stattfindenden Olympischen Sommerspiele wird die Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International (AI) eine Kampagne starten. Mit dem Vorsitzenden der österreichischen AI-Sektion, Franz Schneider, im Privatberuf Mittelschulprofessor, sprach darüber FURCHE-Redaktionsmitglied Roberto Talotta.

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Auf rund 10.000 wird die Zahl derer geschätzt, die in der UdSSR aus politischen Gründen inhaftiert sind. Anläßlich der 1980 in Moskau stattfindenden Olympischen Sommerspiele wird die Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International (AI) eine Kampagne starten. Mit dem Vorsitzenden der österreichischen AI-Sektion, Franz Schneider, im Privatberuf Mittelschulprofessor, sprach darüber FURCHE-Redaktionsmitglied Roberto Talotta.

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FURCHE: Im kommenden Jahr werden die Olympischen Sommerspiele in der Sowjetunion stattfinden. Wird AI eine ähnliche Kampagne gegen die Menschenrechtsverletzung in der UdSSR durchführen wie im vergangenen Jahr anläßlich der Fußballweltmeisterschaft in Argentinien?

SCHNEIDER: Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, sportliche Ereignisse anzuprangern. Wir haben aber sehr wohl ein Interesse daran, die durch solche Ereignisse geweckte Aufmerksamkeit dazu zu nützen, AI-Themen in der Öffentlichkeit besser bekannt zu machen. Wir werden also in dieser Zeit eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Wir hoffen, anläßlich der Spiele in Moskau eher ein offenes Ohr zu bekommen, als es zu einem anderen Zeitpunkt möglich wäre.

FURCHE: Wann beginnt die Kampagne? ■

SCHNEIDER: Im Herbst, zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Ende Oktober wird ein offener Brief an Leonid Breschnew veröffentlicht.

In diesem Brief wird um eine generelle Amnestie für sämtliche politische Gefangene gebeten.

FURCHE: Das Ergebnis der Argentinien-Kampagne war ja Ihrer Aussage nach „sehr mager“. Was erhoffen Sie sich von den Moskauer Spielen?

SCHNEIDER: Man könnte fast meinen, daß in den letzten Monaten zumindest keine Verhärtung seitens der Sowjetregierung gegenüber Andersdenkenden erkennbar ist Eher sogar eine weichere Welle. Wir hoffen, daß sie in Zusammenhang mit den Olympischen Spielen und der KSZE-Nachfolge-Konferenz in Madrid anhalten wird.

FURCHE: Wieviele politische Häftlinge gibt es nach Schätzungen von AI in der Sowjetunion?

SCHNEIDER: Der AI-Bericht 1975 spricht - allerdings mit einigen Fragezeichen-von etwa 10.000. Das sind rein politische Gefangene. Seit diesem Bericht sind AI weitere 300 Fälle namentlich bekannt geworden.

FURCHE: Gibt es auch eine geschätzte Zahl von Mitbeteiligten, etwa von Angehörigen der Inhaftierten?

SCHNEIDER: Wenn man annimmt, daß ein Inhaftierter zwei bis drei Betroffene hinter sich stehen hat, kommt man auf eine Zahl um die 30.000 Mitbeteiligten.

FURCHE: Wie sieht die Verfolgung ir^der Sowjetunion konkret aus?

SCHNEIDER: Es sind einige Punkte besonders hervorzuheben: Zunächst die Einschränkung der Rechte: Demonstrationsfreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit. Sie sind in der Verfassung der Sowjetunion sehr wohl garantiert, werden aber durch das Strafrecht und einige Gummiparagraphen eingeengt.

Die nächste Steigerung: Viele werden, weil sie sich für diese Freiheiten einsetzen, ins Gefängnis geworfen. Etwa nationale Minderheiten wie die Armenier, die eine verstärkte nationale Eigenständigkeit fordern und in ihren Bestrebungen gehindert werden. Dasselbe gilt auch für Ukrainer und andere. Hier gibt es regelmäßig Inhaftierungen und Prozesse.

Spezialität der Sowjetunion ist die „Besserungsarbeit“: Die Arbeitsbedingungen sind extrem hart und es wird keinerlei Rücksicht auf berufliche, körperliche und geistige Voraussetzungen der Lagerinsassen genommen. Sie tragen dann arge gesundheitliche Schäden davon.

Eine besondere Strafmaßnahme: Man läßt die Leute hungern, indem man sie auf ganz schwache Ration setzt. Dazu kommt noch eine weitere Haftverschärfung: Wenn die Häftlinge die Arbeit verweigern, werden sie in einen 2,5 Meter großen Raum gesperrt. Dort ist es kalt, ungelüftet, kein Licht. Zudem mangelt es an medizinischer Betreuung.

FURCHE: Nach welchen Kriterien werden sowjetische „Straffällige“ in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, nach welchen in ein Arbeitslager?

SCHNEIDER: Amnesty International betreut zum Beispiel den Fall eines Mannes, dem subversive Tätigkeit am Arbeitsplatz vorgeworfen wurde. Auch wegen einiger Veröffentlichungen wurde er vor Gericht gestellt. Man meinte, daß solche Handlungen nicht angepaßt und daher psychiatrisch zu behandeln seien. Darauf wurde er vom Gericht zwangsweise in eine Anstalt eingewiesen.

Ein anderer engagierte sich für Minderheiten. Da er sehr bekannt war, hätte eine Gerichtsverhandlung nur unliebsame Publizität hervorgerufen. Da zieht es die betreffende Stelle vor, so jemanden in eine psychiatrische Anstalt einzuweisen und ihn für unzurechnungsfähig zu erklären.

Die psychiatrische Behandlung ist leicht zu erklären: Man lebt ja in der „bestmöglichen aller Gesellschaften“, und daher kann ein abweichendes Verhalten nur durch abnormes Denken, oder Krankheit erklärbar sein. So etwas muß „geheilt“ werden.

FURCHE: Es geht also alles „legal“ zu?

SCHNEIDER: In der Verfassung sind die Menschenrechte alle garantiert. Im Strafgesetz werden sie dann eingeschränkt.

FURCHE: Gibt es eine Aufschlüsselung, wieviele jeweils in psychiatrischen Anstalten, Kerkern oder Gefängnissen sind?

SCHNEIDER: Die Zahl der Inhaftierten in einer psychiatrischen Anstalt ist nicht derartig immens, wie man immer annimmt. Man wird also „nur“ von hunderten sprechen können.

FURCHE: Einer ist jedoch bereits genug?

SCHNEIDER: Einer ist schon zuviel ...

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