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Der Linksrutsch

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Das Catshaus, die Amtswohnung ies niederländischen Ministerpräsi-ienten im Haag, hat in der Politik les Landes symbolische Bedeutung erhalten. Jacob Cats, dem das Ge-läude seinen Namen verdankt, war ?in bedeutender Dichter und Staats-nann im 17. Jahrhundert, dem gol-lenen Zeitalter Hollands. Von seinem -andsitz hatte der Dichter damals loch einen herrlichen Ausblick über ippige Viehweiden und blühende rulpenfelder.

Nicht ganz so vergnüglich ist das jeben im Catshaus heute. „Den Uyl licht ins Catshaus“, lautete bis .vor curzem der Wahlspruch des konservativen Premiers. Woraufhin eine 'ortschrittliche Zeitung eine Karika-ur veröffentlichte, die Fliegeran-jriffe auf das Catshaus zeigte, worin ler Alte sich verbarrikadiert hatte ind aus allen Rohren auf die Angreifer feuerte.

Den Uyl und Biesheuvel waren die inversöhnlichen Gegner im Wahl-:ampf und nach den recht unklaren Wahlergebnissen während der end-osen 150 Tage der Kabinettsbildung,

als es bisweilen den Anschein hatte, als sei eine demokratische Regierungsform kaum noch möglich und das Land als Demokratie unregier-bar geworden. Die beiden politischen Führer waren Gegensätze in jeder Hinsicht. Biesheuvel, der strenge Protestant, der seine Wahlreden gerne vor erlesenen Scharen in stimmungsvollen alten Kirchen hielt, ein Vater des Vaterlandes, überzeugt von seinem Recht, im Volksmund „der schöne Barend“ geheißen, groß von Gestalt, war der Favorit vieler stimmberechtigter Frauen. Den Uyl, der Sozialist hingegen, ist klein, schmal und zart, mit seinem spärlichen Haar ein frühgealterter Mann, nervös und etwas unsicher wirkend, wenngleich energisch wie kaum ein anderer. So saßen sie einander an jenem Vorabend der Wahlen zu einer letzten Auseinandersetzung auf den Bildschirmen gegenüber, erbitterte Kämpfer, zitternd vor innerer Spannung. Und ganz Holland zitterte mit ihnen, parteiergreifend, ängstlich ein jeder, daß sein Mann sich in letzter Minute noch eine Blöße geben könn-

te. Wir kennen den Ausgang der Wahlen, der ein langwieriges Ringen um die Macht nach sich zog. Um die Macht?

Nach fünf Monaten waren alle Beteiligten bescheidener geworden und man gab sich mit einer Koalitionsregierung zufrieden, die nur ganz wenig dem bereits vor einem halben Jahr geplanten, ziemlich linken Schattenkabinett glich. Eine Regierung kam zustande, die sich zusammensetzt aus zehn Sozialisten und Linksdemokraten, sechs progressiven Katholiken und Protestanten. Jeder atmete auf, niemand ist begeistert. Schwierigkeiten und Differenzen über Grundsätze, Programmpunkte und die Wahl von Personen hat es bis zuletzt gegeben. Sie stellten die Kabinettsbildung noch kurz vor Torschluß in Frage. Ein moralisches Problem wie das der Abtreibung konnte glücklich umsegelt werden, indem man einen Katholiken, den jungen Justizminister Dr. van Agt, aus dem alten Kabinett herübernahm, wodurch eine christliche vertretbare Lösung der heiklen Frage gewährleistet scheint. Sogar die „Drei von Breda“, die letzten in Holland gefangen gehaltenen deutschen Kriegsverbrecher, spielten eine Rolle und waren Ursache des Rücktritts eines bereits ernannten Staatssekretärs in allerletzter Stunde. Daß die im Wahlkampf überaus selbstsicher aufgetretenen Liberalen ausgeschaltet wurden, ist bekannt.

Es gab am Ende keine Alternative mehr. Die Konfessionellen, die im Wahlkampf schwerste Verluste erlitten hatten, mußten das Ruder herumwerfen. Sie hätten es freilich vorgezogen, als Zentrumsblock ein Gegengewicht gegen Links zu bilden. Allein, man mußte besorgen, daß diese alten Parteien, gespalten in einen progressiven und einen kon-

servativen Flügel, am Ende auseinanderbrechen würden. Der Gedanke an eine christliche Union erscheint im Augenblick fast als eine Utopie.

Man muß bis ins erste Nachkriegsjahrzehnt zurückgehen, um in Holland eine sozialistische Regierung zu finden. Die Sozialisten haben lediglich vor etwa sechs Jahren mit den Katholiken in einer schwarz-roten Koalition gemeinsam regiert.

Das neue Kabinett sieht eine immense Aufgabe vor sich. Viel Arbeit mußte während der langen Interimsperiode zurückgestellt werden. Die Wohnungsnot ist zwar weitgehend behoben. Der Spuk der Inflation aber droht nach wie vor, die überdrehte Lohn- und Preisspirale muß abgebremst werden. Probleme des Verkehrs, der Umweltverschmutzung, der Milieuhygiene, der Landwirtschaft, die Fragen der Mitbestimmung der Arbeiter in den Fabriken, der Nivellierung von Löhnen und Gehältern, der Zusammenarbeit in der EWG und der NATO, des Verhältnisses Ost-West in Europa, wollen dringend gelöst werden. Die Selbständigkeit der ehemaligen Kolonien Surinam und der Antillen ist ein Ziel der neuen Regierung. Die Regierungserklärung widmete ihre besondere Aufmerksamkeit den Entwicklungen im südlichen Afrika. Sie will

die kommunistischen Freischärler in Angola und Mocambique unterstützen. In dem Bestreben nach Einschränkung der Ausgaben will die Regierung das Gehalt der Minister und Staatssekretäre senken.

Ob der neuen Regierung ein langes Leben beschieden sein wird? Man spielt schon mit dem Gedanken an Neuwahlen, damit klarere Verhältnisse geschaffen werden. Die Liberalen wollen eine harte Opposition betreiben. Die Gefahr neuer Verluste bei baldigen Neuwahlen mahnt jedoch die Konfessionellen zur Vorsicht. Die Neukatholische Partei (NKP), die einen Rechtskurs befürwortet, heute nur mit einem Mandat im Abgeordnetenhaus vertreten, gewinnt vor allem bei älteren Wählern an Vertrauen, weil sie die christliche Moral vor Sexkoller und Sittenverderbnis gesetzlich schützen möchte. Erziehung zu Genügsamkeit, Entsagung und Opferbereitschaft, Steuerung der Dekadenz, das einfache Leben, sind Ziele und Ideale, die sie der Jugend empfehlen möchte. Aber auch die andere Seite, vor allem die jungen radikalen Sozialisten (PPR), die bei den letzten Wahlen ihre Mandate mehr als verdoppeln konnten, träumt von neuen Erfolgen. Möglich, daß dieser Druck die Konfessionellen endlich zu einer soliden Zentrumspartei zusammenschweißt.

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