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Sozialisten: Revision des „Antiklerikalismus“

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Man ist seit dem fatalen Tage in beiden Lagern merklich bescheidener geworden. In sozialistischen Kreisen gibt man unumwunden zu, daß die Partei erkrankt sei. Man folgert, daß Belgien ohne eine kräftige sozialistische Partei nicht gesunden könne. Schon schreitet man fest entschlossen zu einer Reform, einer Modernisierung und Verjüngung der Parteistruktur. Von maßgeblicher Seite spricht man sich gegen den traditionellen „Nationalisations-mythus“ aus, gegen eine veraltete, heute unzweckmäßige Form einer gemeinschaftlichen Verwaltung der Energiequellen, wie sie zwar noch im Parteiprogramm stehe, nun aber durch eine vernünftige, gewissenhafte und strenge Kontrolle zu ersetzen sei. Das gleiche gelte für den Aktienbesitz; hier soll eine kontrollierende Bankkommission größere Befugnisse bekommen. Wir wollen nicht marxistischer sein als Marx, ließ sich ein Kongreßredner in Brüssel vernehmen. Das Ideal eines sozialistischen Staates gelte es mit allen Mitteln zu erstreben, zu großer Staatszwang aber sei vom Übel.

Wichtiger noch scheinen uns die neuen Ansichten auf weltanschaulichem Gebiet. Die Partei strebt in Zukunft nach besseren, modernen Beziehungen zwischen Staat und Individuum, zwischen Partei und Kirche. Eine neue Bewertung der aktuellen religiösen Fragen sieht die sozialistische Partei als eine der dringlichsten Aufgaben an. Damit scheint sich die BSP von einer überholten antiklerikalen Einstellung offiziell zu distanzieren und auf den Standpunkt der meisten europäischen Sozialisten zu stellen. Vor allem möchten die belgischen Sozialisten ihren Kontakt und die guten Beziehungen zu den christlichen Arbeitern und den christlichen Gewerkschaften aufrechterhalten, weiter ausbauen und praktisch nutzbar machen.

Das neue Regierungsprogramm, wenn es sich mit den Parteiprogrammen auch nicht völlig deckt, enthält für beide Parteien immerhin genügend Punkte, die eine ersprießliche Zusammenarbeit und eine sozial-progressive und ökonomischkonstruktive Politik gewährleisten.

Dieses Programm stützt sich auf drei Grundforderungen:

• Gesundung der Finanzen;

• Ausbau der Wirtschaft,

• sozialer Fortschritt.

Den Frieden im Lande hofft man zu gewinnen, indem man die Sorgen und Nöte der verfeindeten Brüder in gleichem Maße zu beheben trachtet. Resümierend könnte man diese wie folgt kurz formulieren: Was die Flamen angeht, sind da in erster Linie zu verzeichnen: Die zunehmende Französierung der Hauptstadt und die Hintansetzung der flämischen Sprache, besonders im auswärtigen Amt.

Die Wallonen beunruhigt: Der rapide Bevölkerungszuwachs der Flamen. (Heute ist das Verhältnis noch 60 zu 40 — im Jahre 1980 könnte es schon 70 zu 30 betragen.) Außerdem ist da die ökonomische Not in Wallonien infolge der arg vernachlässigten und veralteten Industrie. Und Brüssel fordert die Neuprüfung der umstrittenen Sprachgesetze.

Unterstützung durch die drei S

Regierungsformateur und Premier Pierre Harmel, ein katholisch-humanistischer Politiker, der im Jahre 1961 noch als Gegner einer schwarzroten Koalition von sich reden machte, so daß er lange Zeit den Liberalen näherzustehen schien als den Sozialisten, und der als Vorsitzender des „Zentrums für flämisch-wallonische Fragen“ die geplante Verfassungsreform inspirierte, ist vielleicht der Mann, der heute das Vertrauen der politischen Parteien und der beiden Volksteile im weitesten Ausmaß besitzt. -Unter seiner Führung und durch die Mitarbeit prominenter Politiker, wie Spaak, Spinoy und Segers (in Belgien als die drei trefflichen S rühmlichst bekannt), mag es gelingen, den zentralisierten Staat zu einem dezentralisierten Einheitsstaat umzubauen. Dabei soll die kulturelle Autonomie der Landesteile grundsätzlich gewahrt bleiben.

Nur unter solchen Voraussetzungen läßt sich ein Modus vivendi finden, der, nach den Worten des neuen Regierungschefs, „es Belgien ermöglichen soll, noch 20 Jahre als Staat auszuharren? Bis dahin dürfte das vereinte, einige Europa Wirklichkeit geworden sein“.

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