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„Die Dritte Republik ist in Sedan geboren und in Sedan gestorben. Die Vierte Republik ist in Algier geboren und in Algier gestorben. Die Fünfte ist in Algier geboren . . .“

Pierre Lagaillarde

„V/enn ich zwischen dem Koffer und dem Sarg zu wählen habe, so wähle ich den Sarg.“ Joseph 0 r tiz

Vier Männer in der Mitte der Vierzig, Robert M a r t e 1, Joseph O r t i z, der Doktor L e-f e b v r e, Auguste A r n o u 1 d, der 31jährige Pierre Lagaillarde und als Benjamin der 26jährige Student Jean-Jacques S u s i n i stellten die Führungsgarnitur der „Ultras“. Die pittoreskeste Figur unter ihnen ist zweifellos Lagaillarde. Man hat ihn den „Fidel Castro von Algier“ benannt, obwohl sich sein existentiali-stischer Bartkranz ebenso von des Kubaners Vollbart unterscheidet wie die politischen Vorstellungen der beiden Barrikadenheroen. Genauer hat schon de Gaulies Generaldelegierter in Algerien, Delouvrier, getroffen, als er in seinem Appell an die „Insurgenten“ die Universität von Algier, in“ der sich Lagaillardeä verschanzt hat, mit dem Alkazar von Toledo verglich, dessen Verteidigung gegen die republikanischen Truppen im spanischen Bürgerkrieg bekanntlich zu einem dem internationalen Faschismus gemeinsamen Mythos geworden ist. Mag man nämlich bei den anderen Chefs der Ultras zögern, sie „Faschisten“ zu nennen — bei Lagaillarde springt sofort ins Auge, daß er eine Variante dieses politischen Typus meisterlich verkörpert: nicht den kalten Techniker der Macht und nicht den Massenaufwiegler, sondern jenen zynischen Desperado, der über Ernst von Salomons frühe Bücher in die Literatur eingegangen ist. (Nicht zufällig ist die französische Übersetzung von Salomons „Die Geächteten“ — „Les Reprouves“ — heute ein Kopfkissenbuch Hunderter von jungen Franzosen.)

Wir konnten Lagaillarde einmal eine Stunde lang aus einem Meter Entfernung beobachten. Es war bald nach dem 13. Mai 1958, bei einer Pariser Pressekonferenz jener „Volksbewegung vom 13. Mai“, die heute wieder auf den Barrikaden mitgemacht hat. Lagaillarde stak in einer Art von Räuberzivil ä* la St-Germain-des-Pres, mit dem er grotesk von den gutbürgerlich dunkel angezogenen Herren des Komitees abstach: Samtkittel, offenes Hemd mit behaarter Brust, Röhrenhosen. Mit verächtlich heraufgezogener Lippe und leicht höhnischem Grinsen hörte er als Ehrengast - er hatte ja den Sturm aufs Generalgouvernement von Algier eingeleitet, mit dem der 13. Mai begann — sich an, was der etwas konfuse General Chassin kunterbunt durcheinander als Ultragedankengut hervorsprudelte: Ständestaat, Gehirnwäsche, Gut-katholisch-Sein, Socialisme national, Monarchismus und alles mögliche mehr. Als dann plötzlich Stühle durch den Raum zu fliegen begannen, war Lagaillarde der einzige, der nicht aufsprang; er blieb hocken, haute sich auf seine langen Schenkel und brüllte scheppernd: „Hahaha, das ist alles verdammt komisch!“ Man sah dem nach oben zugespitzten Schädel mit dem kurzen Stoppelhaar, den stechenden Augen und dem rötlichen Ziegenbart um dem mächtigen Kiefer an, daß er denn doch anderes gewohnt war.

Daß er zu der unter den französischen Politikern verbreitetsten Berufsgattung, den Advokaten, gehört, will nicht recht zu diesem Manne passen, der sich gern „unpolitisch“ nennt und die Schöpfung der Advokaten — das „System“, die Republik — haßt. Aber eigentlich wollte er ja Fallschirmjäger bleiben. Es ist nie recht geklärt worden, weshalb er da aussteigen mußte; es wurde davon gemunkelt, daß er in gewiß allzu illegale Aktionen verwickelt gewesen sei. Ein Faktum ist auf jeden Fall, daß es ihm einen Höllenspaß macht, die Paras dadurch zu ärgern, daß er zu seinen spektakulärsten Aktionen jeweils seine Uniform eines Para-Reserveleutnants anzieht. Man kann dann erleben, daß er in dieser Uniform aufs große Gefallenendenkmal von Algier kletterte, um von dort aus die Menge anzufeuern, dabei aber — eine Zigarette im Mundwinkel sitzen hat.

Seine Macht über ganz junge Leute — Gymnasiasten, Studenten, Lehrlinge — erklärt sich wohl daraus, daß er Spannungen in sich austrägt, die auch deren Spannungen sind. Er ist ja auch nicht nur zynisch. Einen Journalisten, der ihn als Mörder bezeichnet hat und nun in einem Pariser Salon unvermutet vor ihm steht, bringt er in Verlegenheit, indem er an die Achselhöhle greift und kummervoll vor sich hin murmelt: „Verflixt, wo hab' ich denn mein Schießeisen?.. .“■ Eine Viertelstunde später jedoch kann der gleiche Lagaillarde mit einer Stimme, der man die Aufrichtigkeit anspürt, sagen: „Nous voulons une France reelle, profonde, sincere . . .“ (Wir wollen ein wirkliches, tiefes, aufrichtiges Frankreich.)

Er genießt wohl die „Fidel-Castro“-Romantik, die sich um ihn webt. Aber wie die „Nihilisten“ bei Ernst von Salomen weiß er um die Wichtigkeit der Disziplin im revolutionären Raum — in seinem „Alkazar“ herrschte eiserne Ordnung; es wurde Wache geschoben, an der Waffe geübt, und für Ein- und Ausgang waren Passierscheine notwendig. Das hinderte jedoch Lagaillarde wiederum nicht, in einem Stadium des Putsches, wo die Haltung von Armee und Polizei noch keineswegs klar war, mutterseelenallein, nur mit einem Colt an der Hüfte, durch die belebteste Straße Algiers zu spazieren und sich an der Verblüffung der Passanten zu weiden, die ihn in seiner „Festung“ glaubten.

Man hat gesagt, Lagaillarde sei ein Gefangener seiner Legende. Eine Zeitlang schien er ich ja zu domestizieren: Er wi;urde Parlamentarier und kehrte sich nicht darum, dafür von seinen früheren Anhängern beschimpft zu werden. Es gibt sogar ein Photo; auf dem man ihn im korrekten schwarzen Anzug in respektvoller Haltung vor dem General de Gaulle stehen sieht. Man sagte damals: Im Grund hat er ganz gemäßigte und vernünftige Ansichten; er ist zu ge-SJHifOJW Pummheiten;

Nun, diese „Dummheiten“ lockten ihn auch wieder auf -die Barrikaden des zweiten Putsches von Algier. Die Politik des Alltags mit ihrem ständigen Zwang zum Kompromiß ist wohl nicht das, was diesen Mann ganz anziehen kann. Er hat zu sehr mit jenem wohligen Rieseln über die Haut gespürt, welch explosive Kraft in einem o rhetorischen Staatswesen wie der französischen Republik in der Aktion um der Aktion willen steckt.

Eine solche Haltung ist jedoch nicht jedermanns Sache. Sie fasziniert die Jugend. Aber da lind die vielen „armen Weißen“ der Volksviertel, die andere Sorgen haben und von einem Fallen der Rassenschranken für ihre ohnehin schwierige. Existenz Schlimmes fürchten. Ihr Mann ist der Bistro-Besitzer Joseph O r ti z, der nicht wie Lagaillarde aus den „feinen Quartieren“ kommt, sondern aus ihrer Mitte stammt. Dieser Mann, groß und fest wie ein Schrank, kein magerer Bock wie Lagaillarde, sagt von dem anderen: „Dort ist die Diktatur, bei mir Ist die Demokratie.“ Damit meint er, daß es in der Bank, in der er sich mit seiner „Französischen Nationalen, Front“ (FNF) verschanzt hat. salopper zugeht. Hier ist keine Kaserne, sondern hier weht ein wenig die unbeschwerte Luft eines südamerikanischen Pronunciamentos — Ortiz ist ja, wie so viele „Algerienfranzosen“, von spanischer Herkunft. Kein Wunder, daß in der südlichen Atmosphäre von Algier die FNF mit angeblich 14.000 Köpfen die stärkste Ultra-Organisation sein soll. Aber im Ernstfall will Ortiz so wenig zurückweichen wie Lagaillarde. Für diesen Ernstfall hat er in der Bank so viel Sprengstoff angehäuft, daß man schweren Herzens — das Rauchen verbieten mußte. Wer sich aber doch gern eine Gauloise ansteckt und dazu einen Ricard trinken will, der geht um die Ecke in Ortiz' Bistro „Le Forum“, das gleich an der Treppe liegt, die zum Forum hinaufführt (dem Schauplatz aller Umwälzungen in Algier). Selbst während des Putsches nämlich hat Ortiz Freunde und Journalisten dorthin zu einem Trunk geladen. Journalisten jedoch, denen es gelungen war, bis in den „Alkazar“ von Lagaillarde vorzudringen, wurden von diesem keines Wortes gewürdigt. Er gab nur den Befehl: „Schildwache, führen Sie diese Herren wieder vor die Barrikaden!“.

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