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Zur Raison gebracht

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Knapp nach der Mitternacht zum 24. April war es, als der Erziehungsminister Frankreichs, Andrė Malraux, Verfasser des Buches von der „condition humaine" an das Mikrophon trat und zu seinen Landsleuten sprach, den „Citoyens“ des französischen Gemeinwesens. Er wiederholte das, was vor ihm Ministerpräsident Debrė angekündigt hatte: Die Hauptstadt stehe unmittelbar in der Gefahr, von rebellierenden Fallschirmjägern,, die im Auftrag der Generäle von Algier stehen, überfallen zu werden. Man müsse stündlich mit der Möglichkeit einer Landung auf einem der Flugplätze rechnen. Die Regierung habe zwar alle Kräfte der Exekutive, die in der Eile zu mobilisieren waren, zum Schutz der Republik aufgeboten. Daneben aber *sei es nötig, daß sich die Männer und Frauen Frankreichs bereitfinden, so wie sie sind, zu den Flugplätzen zu ziehen und die Landenden zur r a i s o n zu bringen, ihnen klarzumachen, in welchem Irrtum sie sich befänden…

Aus dem Dunkel dieser föhnigen Aprilnacht leuchtete in dieser Stunde nicht nur für Frankreich, sondern für alle Europäer, die neben ihrem eigenen Vaterland dieses Frankreich als ihr zweites lieben, das große und stolze Wort von der „r ä i s o n“ wie ein Signal. Malraux, der keinesfalls als ein kritikloser Festredner der bürgerlichen Aufklärung geboren wurde, sondern lange Jahrzehnte seines Lebens auf das verzweifelte Evangelium der Gewalt geschworen hatte, sprach dieses elektrisierende Wort zu den Bürgern seines Landes: und er beschwor den großen Glauben an die schließliche Überzeugungskraft des Geistes über die Gewalt, der klaren Vernunft über die trüben Düsternisse des brutalen Nihilismus.

Aber „raison“ heißt nicht nur Vernunft als erkenntnistheoretisches Prinzip. Im Zusammenhang mit den Vokabeln für „Sein“ um! „Staat“ hat dieses Wort eine unmittelbar politische Bedeutung. Es war die raison des französischen Gemeinwesens, an die Malraux appellierte. Und das, was dann geschah, gab diesem Appell recht. In unmittelbarer Folge lösten sie sich am Mikrophon ab: der demokratische Sozialist Mollet, der katholische De- nokrat Maurice Schuman, die Sprecher der Gewerkschaften und die Männer der vaterländischen Union General de Gaulles. In dieser Stunde, da das gute, das große Frankreich zur Stelle war, entschied sich der Kampf um seine Zukunft. Wir wissen sehr gut, daß die internen Probleme noch nicht gelöst sind, daß die praktische Durchführung der Algerienfreigabe — nichts anderes kann mehr an der Tagesord- aung stehen — noch Zeiten von Rückschlägen und Blutvergießen brin-

gen kann. Aber die wirkliche, die geistige Schlacht, die Frankreich in dieser Nacht wieder einmal stellvertretend für Europa schlug, war gewonnen, kaum daß sie begonnen war.

Lassen wir für einen Augenblick das Spezifische der französischen Situation außer acht. Sie bietet des Allgemeingültigen, auch uns unmittelbar Betreffenden, genug:

Es hat sich in dieser Bewährungsstunde eines freien Gemeinwesens, einer res publica dieses Jahrhunderts vor aller Welt gezeigt, daß es — unbeschadet des formalen äußeren Charakters einer Verfassung — der breiten Basis eines Zusammenwirkens der demokratischen Rechten mit der demokratischen Linken bedarf, wenn ein solcher Sturm bestanden werden soll. Es ist deutlich geworden, daß die Demokraten in ihrem unverändert harten Zweifrontenkampf gegen die Totalitären von links und die Totalitären von rechts nur gemeinsam bestehen oder einer nach dem anderen untergehen können. In den Oktobertagen 1950 hat die österreichische Republik in der Gemeinsamkeit der staatstragenden Kräfte, die ihre „raison“ ausmachen, den Putschversuch des linken Totalitarismus abgewehrt. Sie hat gut daran getan und sie tut gut daran, den Todfeind zur Rechten, dessen internationale Aktionsgemeinschaft keine Phantomlegende, sondern eine Tatsache ist, nicht zu vergessen. Ebenso wie das Frankreich des Resistance-Generals de Gaulle auch in diesen Stunden nicht vergißt, daß die Kommunisten im eigenen Lande Gewehr bei Fuß stehen. Die Geschichte der Freiheit in den letzten Jahrzehnten hat — vom Verrat der spanischen Republik bis zur Mitzerstörung der deutschen Republik von Weimar, vom Hitler-Stalin- Pakt bis zum Nationalkomitee „Freies Deutschland“ — bewiesen, daß die Loyalität der Kommunisten gegenüber einem freien Gemeinwesen demokratischer Art nur auf Zeit bemessen ist und daß es eine sehr praktikable Katastrophentheorie gibt, die den Faschismus als ein dialektisches Durchgangsstadium zur kommunistischen Herrschaft ansieht.

Die Französische Republik, deren innere Struktur, deren Grundrechte und Grundfreiheiten de Gaulle, der für die Trikolore den Widerstandskampf führte, nicht antastete, hat sich in diesem Zweifrontenkampf von innen her bewährt. Ein Frankreich, das die gesunden nationalen Kräfte der Tradition und des vaterländischen Bewußtseins ausgeschlossen hätte, ein Frankreich der marxistisch geführten Volksfront hätte die Belastungsprobe dieser Nacht nicht durchgestanden. Es wäre in den tödlichen Sog des Kommunismus geraten. Aber auch ein Frankreich der „zweihundert Famalien“, des Rechtsblocks und der immer noch dem Vichy-Regime nachweinenden Bourgeoisie, das nicht imstande gewesen wäre, die Arbeitermassen zu jenem imposanten einstündigen Generalstreik der Solidarität zu bewegen, hätte diesem Sturm nicht standgehalten. Die Franzosen haben — allem modischen Defaitismus zum Trotz — stellvertretend für Europa ihre Standfestigkeit bewiesen, weil sie in ihrer großen Mehrzahl Citoyens geblieben sind. Man soll sich um die nun nach dem Sieg der raison, dem Sieg des Gemeinsinnes, angeblich unvermeidliche Krise der „geistigen Wurzellosigkeit“ hierzulande keine allzu großen Sorgen machen. Manchen europäischen Nationen würde ein Bruchteil jener Wurzeln genügen, die dem Baum in dieser Sturmnacht Halt gaben.

Europa wird aus diesem französischen April seine Lehren zu ziehen haben. Kein Land, ob nun diesseits oder jenseits des Rheins oder der Pyrenäen, ist vor ähnlichen Krisen ge-

feit. Die politischen Gegenwartsbezüge, die historischen Gegebenheiten sind von Land zu Land verschieden. Aber es gibt im heutigen Europa ein Gesetz kommunizierender Gefäße. Der Geist des freiheitlichen Bewahrungswillens, der in diesen Tagen die jungen Reservisten der großen französischen Armee, die streikenden Arbeiter von Paris, die katholischen Intellektuellen wie auch ihre liberalen Kollegen, die Gewerkschaftsführer und die alten Widerstandskämpfer erfüllte, kann und wird ansteckend sein … wie es jeder gute und böse

Geist war, der in den letzten beiden Jahrhunderten aus Paris kam. Der Reinigungsprozeß vom Gangränegeschwür des rechten Totalitarismus hat in Frankreich eingesetzt, den der bazillenstreuende Eiterherd ist dort am weitesten gediehen: Dort haben sie sich zusammengefunden, die SS- Desperados, die Folterer und Schinder der Fremdenlegion, die an den Krieg fixierten Kommißknöpfe, aber auch die degenerierten Schönlinge des Faschis-

mus, seine Ästheten und Literaten. Und auch die Groß-Bourgeoisie der „Abwartenden“, der Packler und Doppelzüngler hat sich durch ihr feiges und vieldeutiges Schweigen in diesen Tagen deutlicher entlarvt als anderswo. Der General der Republik hat das Chirurgenmesser angesetzt und ist dabei, die Geschwüre vom gesunden Körper des Gemeinwesens abzuschneiden. Er möge den Schnitt führen wie ein Chirurg: mit vorsichtig und überlegt ansetzender, aber sicherer und harter Hand. Europa wird danken und aufatmen.

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