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Vom Gefängnis in die „exterritoriale Klinik“

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Die marokkanische Delegation in Paris hatte den Auftrag, diese Situation darzulegen und im Sinne einer Haftentlassung Ben Bellas vorstellig zu werden. Sie hat dabei einige Anregungen vorgetragen. die nicht neu sind, sondern schon im Sommer 1959 zur Diskussion gestellt wurden, als sich ein Treffen de Gaulle—Mohammed V. abzuzeichnen begann, das dann aber im letzten Moment scheiterte. Nach diesem Plan, den Ben Bella gebilligt haben soll, müßten die fünf internierten Minister in einer von der marokkanischen Regierung gemieteten Klinik untergebracht werden, die unter dem Schutz der Exterritorialität stünde. Nach der wohl von Zweckoptimismus gefärbten marokkanischen Version erregte der Vorschlag ein gewisses Interesse de Gaulles; Ministerpräsident Debre hat jedoch das Prinzip der Exterritorialität zurückgewiesen, ohne allerdings jede Form ärztlicher Aufsicht von marokkanischer Seite von vornherein auszuschließen. Damit mußte sich die marokkanische Regierung mit praktisch leeren Händen dem angedrohten Sturm der Opposition stellen, und die Art, wie sie ihn bewältigt hat, scheint doch zu beweisen, daß dieses Regime mehr Solidität hat, als es zuweilen den Anschein macht.

Ben Bella seinerseits nützte die marokkanische Aktivität, um das Repertoire seiner Hungerstreikmotive erheblich zu erweitern. Er sprach zunächst von seiner Absicht, sowöhl Paris wie den FLN in Tunis vor die Tatsache seiner Inhaftierung zu stellen. Darauf gab er seinem Willen Ausdruck, den Streik bis zu seiner Entlassung durch zuhalten. Des weiteren betonte er seinen ausdrücklichen Wunsch, die französisch-marokkanischen Beziehungen von der Belastung seiner Internierung zu befreien. Es folgte in diesem Zusammenhang die Forderung, an den Verhandlungen für den Frieden in Algerien in vollem Umfang mitzuwirken. Schließlich fehlte auch nicht die Anspielung, seine Entlassung müßte „für de Gaulle ein Kinderspiel“ und damit zumindest ein Test für die tatsächliche Befähigung des französischen Staatspräsidenten sein, eine Politik der Befriedung durch Verhandlungen gegen die innenpolitische Opposition in der Metropole und in Algerien durchzusetzen.

Bei einer solchen Fülle von Motiven muß sich die Vermutung auf drängen, daß Ben Bella seine wahren Absichten für sich behält; dies um so mehr, als die Differenzen zwischen den Erklärungen der FLN-Regierung in Tunis und seinen eigenen Äußerungen offensichtlich waren. Der Plan zu diesem Hungerstreik ist zweifellos nicht in Tunis ausgeheckt worden. Ben Bella verfolgt seine eigenen Ziele, und man wird wohl nicht weit fehlgehen, wenn man vermutet, daß er auf diesem Wege seine Suprematie unter den Kombattanten neu erhärten will, um der Gefahr’ zu begegnen, nach fünf Jahren Gefangenschaft zu einer nationalen Reliquie zu verblassen.

De Gaulle ist für die Gefangennahme der fünf Minister nicht verantwortlich; er hat sie mit der Konkursmasse der IV. Republik übernommen. Sein Verhalten war einfach von der Überlegung beherrscht, daß Gefanscheint es fraglich, ob diesen Anweisungen in allen einschlägigen Anstalten entsprochen wird. Die im Anschluß an die Oktoberdemonstrationen in Paris gebildete parlamentarische Untersuchungskommission hat jedenfaljs einen Bericht ausgearbeitet, der den offiziellen Standpunkt der Regierung in diesem Punkt desavouiert. Nach weiteren diesbezüglichen Zusicherungen von Justizminister Chenot hat sich Ben Bella dann aber am Montag in der Lage gesehen, die muselmanischen Häftlinge zum Streikabbruch aufzufordern.

Begleitgeräusche der Extremisten

Die äußerst interessanten Begleitgeräusche zu diesen Vorgängen liefern die Extremisten beider Lager. Sie operieren durchaus nach derselben Taktik: Disqualifizierung des Gegners als Verhandlungspartner. Dies ist einerseits wiederum in dem Bemühen deutlich geworden, den algerischen Konflikt vor die UNO zu bringen. Einen vielleicht noch gefährlicheren Ausdruck hat diese Taktik in den langsam hysterisch anmutenden Anstrengungen der französischen Aktivisten gefunden, die keine Möglichkeit Vorbeigehen ließen, den Hungerstreik unglaubwürdig oder lächerlich erscheinen zu lassen. In dieses Kapitel gehört ein am NATO- Sitz auf offiziellem Papier veröffentlichtes Schriftstück, das auf Betreiben rechtsradikaler Kreise hin veröffentlicht, aber rasch wieder aus den Verkehr genommen wurde. Es war darin von angeblichen sowjetisch-algerischen Geheimabkommen die Rede, die jedes Verhandeln Frankreichs mit dem FLN sinnlos gemacht hätten. Das Papier ist in Tunis mit der Bemerkung- „pas serieux“ formlos dementiert worden.

Diese Panikmache verstärkt den Eindruck, daß die algerische Angelegenheit nun zur Entscheidung drängt. Ein Element der Hoffnung mag in diesem Moment die Möglichkeit sein,

daß die extremistischen Sabotageaktionen den Verhandlungswilligen auf beiden Seiten die Gemeinsamkeit ihrer Interessen sichtbar macht und sie im Willen eint, dem algerischen Krieg nun ein Ende zu setzen.

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