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„Ultras“, „Amerikaner“ und

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Im Sozialkörper Frankreichs ist heute die Armee zweifellos die ausschlaggebende organisierte Kraft, und daran wird sich kaum etwas ändern, solange der Algerienkrieg nicht ein Ende gefunden hat. Es wäre jedoch falsch, sich die Armee als monolithischen Block vorzustellen. Nicht einmal das Korps der Berufsoffiziere, die militärsch das Rückgrat der Armee bilden, ist politisch eine Einheit. Und vieles, was die Armee in den letzten Monaten tat — oder, weit wichtiger, nicht tat —, ist aus der Sorge zu erklären, ihre Einheit nicht auf die Probe zu stellen und so vielleicht ihre Vorzugsstellung als Staat im Staate zu gefährden.

Grob genommen läßt sich das französische Offizierkorps in „Ultras“, „Amerikaner“ und „Bürokraten“ einteilen. Die ersteren stellen den I-öwenanteil; es sind die Offiziere der Algerienarmee, in der ein draufgängerischer, vom Kampf mit dem Vietminh und dem FLN geprägter Offizierstypus vorherrscht, der nationalistisch gesinnt ist und ständig die zivile Gewalt beargwöhnt, das von ihm Zusammengehaltene zu verschleudern. Die „Amerikaner“ sind eine kleine Minderheit, die sich vor allem in den internationalen Stäben findet; sie halten den Nationalismus mitsamt dem Algerienkrieg für eine überholte Angelegenheit, die den Aufbau einer gesamtwestlichen, allein für planetarische Auseinandersetzungen geeigneten modernen Streitmacht blockiert. Was drittens die „Bürokraten“ sind, braucht kaum besonders erklärt zu werden: es sind die Bürooffiziere in dem recht aufgeblähten „Kopf“ der Armee in den zuständigen Pariser Ministerien. Von ihnen kann am ehesten noch gesagt werden, daß sie dem Standpunkt der Regierung zuneigen. Vielleicht wäre neuerdings noch von einer vierten Gruppe zu sprechen: den „Deutschen“. Ein erheblicher Teil der wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ aus der Algerienarmee entfernten Offiziere ist nämlich mit Kommandos bei den (recht zusammengeschrumpften) Truppen in Deutschland betraut worden. Aber diese Gruppe ist im Grunde nur ein Ableger der „Ultras“, und zwar ein Ableger, der in der relativen Untätigkeit und dem engen Aufeinandersitzen in den deutschen Garnisonen an Virulenz eher zunimmt.

In diesem — wie gesagt groben — Schema scheinen die „Gaullisten“ unter den Offizieren zu fehlen. Natürlich gibt es sie, insbesondere in den Pariser Ministerien. Aber die Regierung hat bei ihrer Praxis, vor allem in der Algerienarmee unzuverlässig scheinende höhere Grade durch solche Gaullisten zu ersetzen, unliebsame Erfahrungen gemacht. Der Korpsgeist, der „genius loci“, erwiesen sich sehr oft stärker als die mitgebrachten Überzeugungen des Neulings; genau so wie die zivilen Vertreter von Paris in der besonderen Atmosphäre Algeriens so häufig ihre Anschauungen wechselten (man denke an Lacoste und Soustelle!), genau so ist dort drüben aus dem Gaullisten Massu der Beinahe-Putschist Masäu geworden. Und auch die internationalen Stäbe in Fontainebleau und bei Versailles scheinen Gremien zu sein, die zu Renitenz gegen den Staatschef reizen. Bloß, daß man ihm hier nicht ein „Zuwenig“ an Nationalismus vorwirft, sondern ein „Zuviel“ ...

Angesichts so verschiedenartiger Tendenzen wundert es nicht, daß der Chef der vereinigten Generalstäbe, General Ely, alles darauf anlegt, eine offene Explosion zu vermeiden. Die Reise, die er in der ersten Monatshälfte zur Algerienarmee unternahm, diente wohl dazu, den allzu unmutigen Offizieren zu sagen: Macht keine Dummheiten — wir erreichen auf legalem Wege genau soviel! Hat nicht der Abbruch der Verhandlungen mit dem FLN gezeigt, daß de Gaulle sich im Rahmen des für uns Zulässigen hält: Kapitulation des FLN und keine politischen Verhandlungen? Und auf die sicher nicht mangelnden Einwände, daß der Staatschef manövriere, und sein Endziel eben doch politische Verhandlungen mit dem FLN seien, mag General Ely geantwortet haben, daß dann eben Gegenmanöver das Aussichtsreichste seien. Die Haltung des Superstabschefs ist noch ganz von der Tradition geprägt, daß die Armee innerhalb der Republik die „große Stumme“ zu sein habe.

Den Offizierstypus, der im Gegensatz zu dieser Haltung in einer aktiven politischen Rolle der Armee das Heil sieht, stellt man sich gewöhnlich mit den Zügen des Generals Massu oder jenes Generals Faure vor, der fast an allen Komplotten der letzten Jahre beteiligt zu sein schien: also als draufgängerische Truppenführer, die kein Blatt vor den Mund nehmen und darum auch von ihren Soldaten als „schicke Typen“ bewundert werden. Wie brüchig Schemata sind, zeigt sich jedoch daran, daß derjenige Offizier, in dem die Kenner den einzigen ernsthaften Anwärter auf die Rolle eines französischen Franco sehen wollen, genau wie Ely ein ausgesprochener Stäbler ist. Es handelt sich notabene um einen General, dem man bisher keine einzige Geste der Verschwörung, kein einziges unvorsichtiges Wort hat nachweisen können. Aber es haftet ihm nun einmal der Ruf an,, daß er Gehirn und Seele eines französischen Pronunciamentos sein könnte.

Wir sprechen von dem General Le-c o m t e, der in den letzten Jahren auffällig oft versetzt worden ist. Zu Beginn der Fünften Republik war er Direktor der Kriegsschule in Paris. Von diesem Posten, der einen entscheidenden Einfluß auf die geistige Ausrichtung des Offizierkorps einräumt, wurde er aber bald nach Deutschland abgeschoben, wo man ihm das Kommando des I. Armeekorps übertrug. Als sich dort aber unter General Allard, dem vorigen Oberkommandierenden in Algerien, immer mehr „Ultras“ sammelten, hielt man es doch für besser, Lecomte nicht als „Kristallisierungspunkt“ dort zu lassen. So hat man ihn zu den „Amerikanern“ und den — Amerikanern abkommandiert: Lecomte ist in diesen Tagen zum Vizestabschef des SHAPE ernannt worden. Man munkelt sogar davon, daß de Gaulle, der die „weiche Tour“ ja mehr und mehr den harten Eingriffen vorzieht, Lecomte durch eine besondere Ehrung auf seine Seite zu ziehen suche — er habe ihn nämlich als Chef der künftigen nuklearen „force de frappe“ Frankreichs ausersehen.

Die Fähigkeiten dazu hätte Lecomte sicherlich. Als Gegenspieler der Regierung wäre er nicht nur wegen seines großen Netzes von persönlichen und freundschaftlichen Beziehungen innerhalb der Armee gefährlich, sondern auch deshalb, weil er als einer der intelligentesten und tüchtigsten Generale Frankreichs gilt. Außerdem hat er seit Ende des zweiten Weltkrieges viele Posten bekleidet, die ihn politische Erfahrungen sammeln ließen. So war er in Nordafrika der „Kopf“ von Marschall Juin, der bekanntlich, trotz seiner Zugehörigkeit zur Aca-demie Frangaise, eher dem Troupier-Typus von der Art. Massus zugehört. Bekannt ist auch Le-comtes Tätigkeit als Kabinettchef eines Generals mit elsäßischem Namen, der in der Vierten Republik eine Zeitlang den nicht unkomplizierten Posten des Verteidigungsministers innehatte. Von diesem General-Minister will die Fama wissen, daß er während des Ministerrates jeweils bei jeder kitzligen Frage ins Vorzimmer ging, um sich dort von Lecomte die Antwort zu

E fragt sich nun, wie Lecomte sich in den Internationalen Stab des SHAPE einfügen wird. Schon physiognomisch ist er nicht von der gleiten Art wie die dem modernen „Manager“ ingenäherten Generale Ely und Valluy, mit lenen sich die Angelsachsen so gut vertrugen. Mit seiner drahtigen Gestalt, dem angespannten Besicht mit dem kleinen Schnurrbärtchen steht -ecomte noch dem traditionellen Typus des ranzösischen Generals näher. Für ihn ist der Mgerienkrieg nicht ein Verkehrshindernis, das nan möglichst rasch beseitigen muß, um zu den wesentlichen Aufgaben zu kommen. Seiner Meinung nach entscheidet sich vielmehr in die-em Krieg das Schicksal Frankreichs und in weitem Maße auch dasjenige Europas. Lecomtes itärke ist, daß die überwiegende Mehrheit des ranzösischen Offizierskorps diese Meinung teilt.

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