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„Battle Royal” in Algier?

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Wie weiland Archimedes zeichnet de Gaulle seine politischen Parabeln in den nordafrikanischen Sand, und alle Anzeichen sprechen dafür, daß auch diese Kreise von den rohen Soldatenstiefeln der Gewalt gestört werden. Die Entwicklung in Algerien entzieht sich zusehends jeder vernünftigen Beeinflussung, um den eigenen Gesetzen des radikalen Terrors zu folgen. Nach sieben Jahren Krieg ist die militärische Lage verworrener denn je und die politische Situation völlig entartet.

Wie an einer Gesetzmäßigkeit scheiterten alle bisherigen Friedensbemühungen an der Tatsache, daß die französischen Zugeständnisse um eine Phase hinter den Forderungen der algerischen Nationalisten herhinkten. Der Verzicht auf Positionen, die gestern die Einigung verhinderten, bleibt heute ohne Erfolg, weil sich die Ansprüche des mißtrauischen FLN inzwischen verhärtet haben. Die Schwierigkeit von Lugrin, die Souveränität über die Sahara, ist seit der Pressekonferenz de Gaulles von Anfang September ausgeräumt. Nichts schiene damit einer Verständigung mit dem FLN mehr im Wege zu stehen, wäre nicht ein neues Hindernis erwachsen, das sich diesmal auch dem Einfluß der algerischen Nationalisten entzieht: die Organisation der Geheimarmee (OAS).

OAS: „Dritter Mann” bei allen Verhandlungen

‘Blfe’OÄSni t bfetite ‘so wenig geheim, daß ä i •’dirttfi’.’ihren Einfluß die französische Regierung als Verhandlungspartner desavouiert hat. Paris hat die Kontrolle über die Entwicklung in Algerien bereits so stark verloren, daß der FLN den Wert nunmehr zu treffender Abmachungen füglich bezweifeln muß. Die Macht und der politische Wille des französischen Staatspräsidenten versickern auf ihrem Weg zwischen dem Elysee und dem Rocher Noire, wohin sich die französische Administration (50 km außerhalb Algiers) bereits abgesetzt hat.

Es wird natürlich offiziell niemals zugegeben werden, aber die OAS ist heute zu einem dritten Verhandlungspartner geworden, über dessen Auffassungen sich Ministerpräsident Debre ebenso informieren läßt wie andere französische Politiker (und seien es selbst oppositionelle) oder die provisorische algerische Regierung in Tunis. Salans Angebot an die französische Nationalversammlung, den Krieg und die Zukunft Algeriens den europäischen Siedlern zu überlassen, wird als Wahnsinn betrachtet, aber es steht zur Diskussion. Es spielt eine gewisse Rolle in den Bestrebungen Debres, die algerische Frage auf dem Wege der Bevölkerungsumgruppierung zu „lösen”; ein Verfahren, das den Experten allgemein bloß zur endlosen Verschleppung des kriegerischen Konflikts geeignet erscheint.

Unter dem Eindruck, daß die Zeit offenbar für den OAS-Terror arbeitet.

beschleunigt de Gaulle seine persönlichen Pläne für die Befriedung Algeriens, um einem totalen Zusammenbruch der Ordnung zuvorzukommen. In nahezu hektischer Eile versucht Algerienminister Joxe jene provisorische parlamentarische Versammlung zu organisieren, die durch die Konstituierung einer provisorischen Exekutive den Volksentscheid vorbereiten soll. Ihr soll zur Wahrung der Ordnung eine Lokalmiliz von mindestens 50.000 Mann zur Verfügung gestellt werden.

Hoffnung auf den „Kurzschluß”

Es handelt sich um einen Wettlauf gegen die Uhr. Die OAS darf keinesfalls genügend Zeit haben, in aller Ruhe ihre Macht und ihren Einfluß zu konsolidieren, um in Algerien einen erfolgreichen Putsch zu entfesseln. Es mag seltsam klingen, aber die besten Hoffnungen de Gaulles beruhen darin, die OAS zu überstürztem Handeln zu zwingen und durch einen überhasteten Mißerfolg ihre Organisation zu zerschlagen.

Sollte es zu einem derartigen Eklat kommen, und die diesbezüglichen Gerüchte verdichten sich, wäre das Resultat nicht voraussehbar. Die Entscheidung wäre wohl von besonderen Umständen, von psychologischen Unwägbarkeiten abhängig. Angst und Unsicherheit in der europäischen Bevölkerung haben jetzt einen Grad an Hysterie erreicht, der vermutlich der

OAS eine ziemlich deutliche Gefolgschaft sichern würde. Die lokalen Polizeikräfte stehen der OAS zumindest mit Sympathie gegenüber. Die Haltung der Armee ist ebenfalls nicht eindeutig. Gewisse Vorgänge und Persönlichkeiten haben die OAS in Kreisen der Offiziere in Mißkredit gebracht. Aber anderseits wurde es den Aktivisten nicht sonderlich schwer gemacht, sich durch „Diebstahl” aus Armeebeständen auszurüsten. „Loyal” ist am ehesten das Kontingent, das lieber schon heute als erst morgen ins Mutterland zurückkehren möchte. Entschlossen, jeden Putschversuch mit äußerster Härte niederzuschlagen, scheinen einzig die republikanischen Sicherheitskompanien (CRS) aus der Metropole. Denken wir uns noch die Truppen des FLN und die 50.000 Mann muselmanische Lokalmiliz dazu, die bis Ende des Jahres rekrutiert werden sollen, dann sind die Faktoren vollzählig versammelt, die das Chaos in Algerien zur Tatsache machen können. Fehlten nur noch die blauen Helme der UNO-Truppen.

Der Wahnsinn einer solchen Schlacht aller gegen alle wäre ohne Beispiel. Er erinnert höchstens an jene entartete Form des Boxkampfes, „Battle Royal” genannt, in der mehrere Konkurrenten gleichzeitig mit verbundenen Augen aufeinander losgelassen werden. Wer als letzter auf den Beinen steht, bleibt Sieger.

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