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Galadiners und Plastikbomben

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Es ist Oktober. Ein unfreundlich kühler Herbstregen rieselt nieder. Der Pariser Boulevard St-Michel ist’ um diese Zeit, abends gegen acht Uhr, besonders belebt. Plötzlich kommt Bewegung in die Reihen der Spaziergänger. Eine Polizeipatrouille stürzt sich auf einen Nordafrikaner, setzt ihm die Maschinenpistole auf die Brust: „Hände in die Höhe oder wir knallen dich ab!” Der Mann wird durchsucht: eine Szene, wie sie sich in diesen Tagen ständig abspielt. Die Papiere werden kontrolliert. Sie lauten auf den Namen Sadi, seines Zeichens gaullistisches Mitglied des französischen Senats aus Setif-Batna. „Ca va!” brummt der Polizeiagent mürrisch und geht mit seinen Leuten fürbaß.

Hier stimmt offenbar etwas nicht mehr. Ein Mann wird auf beleidigende Art belästigt, weil er als Muselmane zwar Mitglied des französischen Senats sein kann, aber nach Auffassung der Polizei um diese Stunde bereits in den Federn sein sollte, „aus eigenem Interesse”. Es ist eine kleine Phase aus dem umfassenden Prozeß der „Algeri- sierung” der Metropole.

Die große Szene

Die Situation ist tatsächlich grotesk, denn all das vollzieht sich, während Paris aus dem Festrausch nicht herauskommt. Ununterbrochen werden am Grabe des Unbekannten Soldaten Kränze niedergelegt, exotische Diplomaten in die Oper geschleppt, Insassen städtischer Kinderheime von zugereisten Damen abgeküßt. Ununterbrochen wird im Elysėe der „Corbeille de foie gras Lucullus” auf getragen, während der „Champagne Ruinard” strömt und die Garde rėpublicaine den Triumphmarsch aus „Aida” in den Saal schmettert. Ununterbrochen versammeln sich die Concierges an den Champs-Elysees, um fremde Potentaten zu bejubeln, die ununterbrochen ihre Namen in Gästebücher kritzeln müssen. Politikergattinnen aller Erdteile träumen davon, sich von Kulturminister Mąlrara eines. imprejsio- nistischen AK oder den Park von Versailles erläutern ZJJ lassen. Nach einem hierzulande für Touristen ersonnenen Spiel könnte man de Gaulles Regime die „Republique des sons et ‘umieres” nennen: für Gebildete wäre dies etwa mit „Republik des panem et circenses” zu übersetzen; andere neigen vielleicht eher zum Begriff „Schall-und-Rauch- Republik”, schon wegen der Plastikbomben.

De Gaulle findet keinen Gefallen an nüchterner, harter Schreibtischarbeit. Er hat zur Politik eher ein künstlerisches, denn ein verwaltendes Verhältnis. Es genügt ihm, in großzügig skizzierten Umrissen zu planen;

die Ausführung langweilt ihn, er überläßt sie anderen. Der General will repräsentieren und bejubelt werden. Sich durch hohe ausländische Besucher und applaudierende Massen anhaltend als staatliche Autorität und geliebter Landesvater bestätigt zu fühlen, ist ihm eine absolute Notwendigkeit. Seinen Reisen in die Provinz entsteigt er neugestärkt und erfrischt wie einem Gesundbrunnen. Sie scheinen ihm geradezu die Kraft zu liefern für jene totale Unabhängigkeit, jenen hartnäckig-halsstarrigen Eigensinn, die seine Verbündeten immer wieder zur Verzweiflung bringen.

Debrė tritt aus der Reserve

Das System könnte arbeiten, wenn Debre tatsächlich ein so lammfrommer, getreuer und gehorsamer Exekutivbeamter wäre, wie ihn eine gewisse „Geschichtsschreibung” haben möchte. In Wirklichkeit hat der

Premierminister jedoch nicht gezögert, jenen Spielraum im eigenen Sinne zu nutzen, den ihm das lockere Regiment des Staatspräsidenten beließ. Er hat es verstanden, sich in ein intimeres Verhältnis zur Macht zu setzen als de Gaulle; und dies auf eine Art, die ihn dem Staatspräsidenten unersetzlich macht, während die Umkehrung dieser Beziehung immer weniger Gültigkeit zu haben scheint. Bei der letzten Kabinettsumbildung hat er beispielsweise seinen Willen gegen die Wünsche des Generals durchgesetzt und damit nicht nur einen entwicklungsfähigen Präzedenzfall geschaffen, sondern auch seine Plattform verbessert.

Die Auswirkungen sind für die französische Politik, hauptsächlich in Algerien, nicht günstig. Es ist zwar nicht so, daß die Rechte nicht wüßte, was die Linke tut. Man müßte vielmehr sagen: Der Arm von de Gaulles

Macht ist sehr lang geworden und spielt in vielen Gelenken. Der Zugriff der Hand entspricht nicht immer der Bewegung der Schulter. Dazwischen liegen mehrere Stationen: der Ministerpräsident, die Armee, die Polizei; auch die OAS?

In Paris zirkulieren bereits ziemlich detaillierte Kombinationen, die davon wissen wollen, daß die terroristischen Machenschaften der OAS im Hotel Matignon, wo der Ministerpräsident amtiert, wesentlich anders beurteilt werden als im Elysėe — nämlich nicht ohne Wohlwollen. Denn müßte nicht eine Vertiefung der Feindschaft zwischen Moslems und Europäern jede zukünftige Zusammenarbeit zwischen den beiden Volksgruppen desavouieren und die Notwendigkeit einer Teilung Algeriens unterstreichen? Und seit einiger Zeit glaubt man zu wissen, daß der Ministerpräsident nur noch den Weg einer Aufgliederung Algeriens in geteilte Siedlungs- und politische Interessensphären für möglich hält. Verhängnisvolle Zweideutigkeiten lasten auf der Algerienpolitik Frankreichs.

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