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Sechzig Tage nach Evian

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Bald neun Wochen nach Evian ist für Paris der Zeitpunkt reif, eine erste Bilanz zu ziehen und das Terrain für die weiteren Schritte im Rahmen der Vereinbarungen zu überprüfen. Die Aufgabe ist nicht leicht. Die aus Algerien eintreffenden Berichte vermitteln ein sehr unvollständiges und gegensätzliches Bild.

Positiv kann die französische Regierung vor allem den Umstand werten, daß der OAS bisher kein entscheidender Erfolg beschieden war. Die verbrecherischen Provokationen sind von der muselmanischen Bevölkerung mit unerhört disziplinierter Zurückhaltung beantwortet worden. Die Vereinbarungen von Evian konnten nahezu „fahrplanmäßig“ abgewickelt werden. Die französische Armee ist nicht ins Lager der Insurrektion übergetreten. Der einflußreiche Bachaga Boualem, Vizepräsident der französischen Nationalversammlung, hat die Kollaboration mit den Rebellen unter der Begründung abgelehnt: „Lieber Chinese sein und leben, als Franzose und tot sein.“ Damit ist es der OAS nicht gelungen, im Bled nennenswert Fuß zu fassen. Und schließlich kann sich die französische Polizei rühmen, die beiden großen „Patrons“ Salan und Jouhaud nebst manchen anderen Aktivisten hinter Schloß und Riegel gesetzt zu haben.

Aber die andere Seite der Bilanz ist weniger rosig. Der Ausfall der Ex-generäle scheint die zurückbleibenden radikaleren Exobersten eher von gewissen Hemmungen und Skrupeln zu befreien. Die Hoffnungen auf die „Dynamik des Friedens“ waren auf jeden Fall überzogen. Die große Mehrheit der Europäer bleibt im Griff der Geheimorganisation. Oran ist eine gesetzlose Stadt, und Algier fällt zunehmend dem Chaos anheim. Die Methoden des Kampfes gegen die OAS sind offenbar unzureichend. Bei der bisher umfassendsten Einschnürungsaktion gegen das Quartier Bab-EI-Oued fielen der Truppe nicht viel mehr als ein paar Jagdflinten und Revolver in die Hände. Die europäische Administration in den Städten verharrt in ihrem passiven bis aktiven Widerstand. Die Polizeikräfte rekrutieren sich immer noch zu 90 Prozent aus pieds-noirs, und dieser Zahl entspricht auch so ziemlich ihre Zuverlässigkeit.

Die Armee hat sich zwar wiederholt gegen die OAS gewandt, aber ihr Gehorsam ist nicht absolut. Ihre Abwehrmaßnahmen gehen kaum über das

hinaus, was als die Funktion eines Puffers zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen verstanden werden kann. Dies ist offenbar zuwenig, um mit der OAS fertig werden zu können. Gewiß verurteilen viele Offiziere die Greuel der Attentate, aber anderseits hat das Blutbad unter den europäischen Demonstranten an der Rue d'Isly in Algier unverkennbar ein Trauma hinterlassen. Dann ist auch nicht zu übersehen, daß die Armee drei prinzipielle Aufgaben zugleich zu erfüllen hat. Ein Drittel ihrer Bestände wird durch die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Städten in Anspruch genommen; ein Drittel hält die Befestigungen an der tunesischen Grenze; ein letztes Drittel kontrolliert noch 1500 von früher

3800 Posten im Bled. Dabei schrumpft die Mannschaft durch die Desertion von täglich 100 bis 150 muselmanischen Soldaten, die „mit Sack und Pack“ zum FLN oder zum MNA von Messali Hadj übergehen, stetig zusammen.

In dieser Situation beobachtet die französische Armee mit Unruhe, daß die algerischen Rebellen die Texte von Evian höchst extensiv auslegen. Während vereinbart worden ist, daß sich der FLN vom 19. März an in bestimmte Zonen gruppieren müsse, um der französischen Armee volle Aktionsfreiheit zur Aufrechterhaltung der Ordnung Zu -überlassen, hat sich diese Situation in weiten Gebieten in ihr Gegenteil verkehrt: Die französische Armee sieht sich in kleinen Zentren durch muselmanische Massen blockiert, während die Truppen des FLN voll bewaffnet frei zirkulieren und die Muselmanen im französischen Sold zur Desertion ermuntern, um die Bestände aufzurunden. Durch diese

Übertritte gehen Mannschaften verloren, die eigentlich den lokalen Ordnungskräften unter dem Kommando der provisorischen Exekutive hätten zufließen sollen.

Die eigenmächtigen Auslegungen der Texte von Evian durch die algerische Befreiungsarmee haben erkennen lassen, daß weder die politischen Führer in Tunis noch die provisorische Exekutive in Rocher noire eine starke Autorität über die militärischen Führer ausüben können. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Ben Bella und seinen Kollegen in Tunis haben bereits einen Trend zum militärischrevolutionären Radikalismus aufgezeigt, der auf die zukünftigen Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien nicht ohne Einfluß bleiben kann. Der Zorn der muselmanischen Bevölkerung als Folge des OAS-Terrors kann diesen Tendenzen nur förderlich sein. Die sehr prekäre Versorgungslage in den Casbahs muß deshalb von den Behörden außerordentlich ernst genommen werden.

Angesichts dieser fatalen Schwierigkeiten läßt es General de Gaulle keinen Moment an Entschlossenheit fehlen, die Abwicklung des Programms von Evian konsequent weiter voranzutreiben. Das Referendum soll im Juli stattfinden, und wenn sich die Formel der „kooperativen Unabhängigkeit“ durchsetzt, bedeutet dies sogleich die Übergabe der Kompetenzen an die provisorische Exekutive. Aber entscheidend bleibt die Frage, wer schließlich mit der OAS zu Rande kommen soll. Wenn Frankreich Algerien noch vor der Selbstbestimmung von dieser Hypothek befreien will, muß der Kampf mit Mitteln aufgenommen werden, die im Moment nicht zur Verfügung zu stehen scheinen. Überläßt de Gaulle die entscheidende Auseinandersetzung der provisorischen Exekutive, muß es über kurz oder lang zu einer furchtbaren Rassenschlacht zwischen muselmanischen Ördnungs-kräften und der europäischen Bevölkerung kommen, in der die Stellung der französischen Armee höchst kompliziert sein würde. Von dieser Frage scheint in diesen Wochen die Zukunft des Zusammenlebens zwischen Europäern und Muselmanen in Algerien abhängig zu sein.

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