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Die „letzte Viertelstunde“?

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Eines ist sicher: Frankreich verlebt mit der „letzen Viertelstunde“ des Algerienkrieges die längste Viertelstunde seiner neueren Geschichte. Was ihr folgen wird, bleibt ungewiß; vielleicht die fünfte Viertelstunde des Algerienkrieges.

Paris war in den vergangenen Tagen Schauplatz von Ereignissen, wie man sie seit Februar 1934 nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Wenn heute noch mancher Schädel brummt, dann nicht nur wegen der empfangenen Gummiknüppelhiebe. Das eigentliche Kopfzerbrechen bilden die innenpolitischen Ungereimtheiten einer Regierung, die vorgibt, mit allen Mitteln die OAS zu bekämpfen, aber bei erster Gelegenheit Antifaschisten totschlägt.

Die Republik: den Republikanern verboten?

Mancher Citoyen versteht die Welt nicht mehr. Noch vor ein paar Monaten war er vom Staatspräsidenten feierlich um Hilfe angefleht worden, und der Premierminister hatte ihn sogar aufgefordert, „zu Fuß und im Wagen den Fallschirmtruppen entgegenzueilen, um sie auf ihren schweren Irrtum aufmerksam zu machen“. Am 8. Februar 1962, als er angesichts eines zunehmenden faschistischen Plastikterrors den Staat von seiner Bereitschaft überzeugen will, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, wird er von den Ordnungskräften niedergeknüppelt. Acht von der fliehenden Masse erdrückte und zertrampelte Manifestanten bleiben tot auf dem Pflaster. Das Innenministerium aber überschwemmt die Nachrichtenagenturen mit zahllosen Darstellungen, die auf die kommunistische Tendenz der Demonstration verweisen (wie übrigens schon am berüchtigten 19. Dezember 1961).

Zum Gedenken an die Toten vom 8. Februar wurde am folgenden Montag ein Schweigemarsch zur Place de la Republique organisiert. 20.000 Hüter der Ordnung verlegten der wohldisziplinierten und ruhifen ^Kond*-gebung den Weg; „Die Republik ist. den Republikanern verboten“, konstatierte einer der Anführer sarkastisch. Am Tage darauf strömten Hunderttausende herbei, um die Opfer mit jener großen pathetischen Geste zu Grabe zu tragen, die diese Stadt und dieses Volk immer wieder auszeichnet. Auch die 20.000 Schutzleute waren wieder da.

Operation „Spinnennetz“

Insgesamt sind es sogar 30.000 Schutzleute. Sie sind kurz vor der Rede de Gaulles in der Gegend von Paris zusammengezogen worden, um

der OAS den Garaus zu machen. Die Aktion läuft unter dem bildhaften Titel „Spinnennetz“ und läßt damit manchen Bürger ahnungsvoll erschauern. Ihre Erfolge genießen eine gewaltige Publizität, allein bei näherem Zusehen entpuppt sich die Ausbeute als mager. Jeder Sportfischer würde den Fang wohl in den trüben Tümpel zurückwerfen. Die meisten Spuren führen zu jenem abgefaulten Ast der OAS, auf dem sich die von Spanien internierten „Kanarienvögel“ Lagaillarde, Ortiz und Konsorten wiegen. Der Plastik detoniert indessen

lustig weiter.

Der Hinweis ist wohl überflüssig, daß die 24 Panzer und 100 Schützenwagen der 30.000 Mann starken Polizeitruppe „nicht für es gebaut sind“; nämlich dafür, Bombenlegern auf die Schliche zu kommen. So gescheit ist die Regierung selber. Hingegen sind sie glänzend geeignet, Demonstrationen und Straßenaufläufe zu zerstreuen oder einen Putsch zu verhindern; Dinge, mit denen die OAS in der Metropole bekanntlich eben gerade nicht drohen kann. Von dieser Einsicht ist es nur noch ein kleiner

Schritt bis zur Überlegung, diese 30.000 Mann könnten vielleicht in Wirklichkeit eine andere Aufgabe haben als die Bekämpfung der OAS. Wenn die Regierung aber mit Krawallen rechnet, dann rechnet sie offenbar auch mit einem ungünstigen Ausgang der Friedensverhandlungen mit dem FLN.

Wie immer auch diese Verhandlungen ausgehen mögen, die Masse der Parteien und Organisationen der Linken sowie der Mitte ist in Bewegung gekommen. Sie findet die bisher vergebens angestrebte Einheit in der gemeinsamen Aktion. Und diese gemeinsame Aktion wird vom Bestreben diktiert, aus dem Kielwasser der gaullistischen Politik herauszukommen, um einen selbständigen Kurs zu steuern.

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