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Agrar- und Stadtsozialisten

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Eine Genealogie der inner-algerischen Auseinandersetzungen seit der vergangenen Sommerkrise, ja im Grunde seit Ben Bellas „Kidnapping“ durch die Franzosen im Herbst 1956 beginnt auch für jene, besonders die algerische Misere ausschließlich auf Machtkämpfe unterL,e „eifersüchtigen Bossen“ zurückzuführen. Aus dem Konglomerat der algerischen Freiheits-' bewegung FLN sonderten sich nacheinander Konservative, Anarchisten und Föderalisten ab, wurden — nachdem jede Gruppe ihren eigenen Versuch gemacht hatte, Herr des Landes zu werden — beiseite geschoben, gingen ins Privatleben oder Exil, von wo aus sie freilich, wie in unserer Zeit üblich, weiteragieren. Übrig blieb die regierende und von jeher stärkste, weil den Tegebenheiten von Land und Volk entsprechende Gruppe der bäuerlichen Agrarsozialisten um Ben Bella, gestützt auf dessen zunehmende Volkstümlichkeit, auf die vom Chef des Politbüros Ben Khider reorganisierten und gestrafften FLN-Parteikader von Oranien, Groß-Algier und Süd-Cönstantinois sowie auf des Obersten Boumedienne sogenannte Volksarmee, in der nicht von ungefähr das bäuerliche Element vorherrscht.

Diese sich selbst als „Algero-Sozia-listen“ bezeichnende, von ihren Gegnern auch „bäuerliche Militaristen“ genannte Machtgruppe wird heute nur noch von einer einzigen ernst zu nehmenden Opposition befehdet: den in Algeriens Großstädten beheimateten syndikalistischen bis kommunistischen

Elementen, deren letzte nationale Organisation, die algerischen Einheitsgewerkschaft „Union Generale des Travailleurs Algeriens“ (UGTA) indessen vor zehn Tagen das Schicksal früherer Oppositionen traf, nämlich — im Inland wenigstens — aus- oder „gleichgeschaltet“ zu werden. Innerhalb der FLN wiederholte sich auf kleinerem Forum, was sich in China innerhalb der KP vor dem berühmten langen Marsch abspielte und in gewissem Sinne noch heute für den Bruch zwischen Moskau und Peking verantwortlich ist: der Kampf zwischen bäuerlichen und städtischen Revolutionären, in China ausgetragen zwischen Mao Tse-tung und Liu Schao-tschi, in Algerien zwischen Ben Bella und dessen ehemaligen Haftgenossen Boudiaf. Ben Bella fand für Boudiafs Syndikalisten den Ausdruck „Ouvrieristen“, was so viel heißt wie Arbeiteraristokraten und für deren großstädtischen Nährboden das vernichtende Verdikt von den „Scheinfassaden des Kolonialismus“. Im Unterschied zu China freilich überschritt die Auseinandersetzung in Algerien den innerparteilichen Rahmen, hatte im Sommer bereits während der sogenannten Wila-jistenkrise, an der die „Ouvrieristen“ nicht unbeteiligt waren, den Bürgerkrieg beschwören helfen und beginnt sich jetzt zum kalten Krieg zwischen dem Regime von Algier und einer Exilpartei, der im September in Frankreich gegründeten „Parti revolutionär socialiste“ (PRS) zu gestalten.

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