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Christentum und Weltgeschichte

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„Sie vertreten in unserer Gesellschaft eine neue historische Schule. Statt sich mit einem Menschen oder einer Epoche zu begnügen, mit einem Richelieu wie Gabriel Hanotaux und dem Duc de la Force, mit einem Napoleon, wie Louis Madelin oder auch mit den Kathedralen wie Emile Male, greifen Sie nach Jahrhunderten, nach Völkerschaften und ganzen Kontinenten. Sie erneuern so, mit neuem Material, den ,Discours sur l'Histoire universelle'...“ Mit diesen Worten begrüßte Henry Bordeaux ReneG r o u s s e t, den Orientalisten und Historiker, der als neues Mitglied in die Academie Francaise aufgenommen wurde, als Nachfolger des verstorbenen Schriftstellers, Kritikers, Historikers, Orientalisten und Weltreisenden Andre Bellessort.

Es ist ein bezeichnender Vorgang, daß in unseren Tagen ein Fadimann der fernöstlichen und besonders der chinesischen Geschichte als Fortsetzer der Tradition von Bossuets „Discours sur l'Histoire universelle“ von 1681 gefeiert wird. Hat doch der Blick auf die Geschichte des Fernen Ostens einst entscheidend dazu beigetragen, jenes spätantik-mittelalterliche Geschichtsbild zu sprengen, dessen letzter bedeutender Vertreter eben Bossuet, der Prediger Ludwigs XIV. und Bischof von Meaux gewesen war. Durch mehr als dreizehn Jahrhunderte, von' der christlichen Spätantike über das ganze Mittelalter bis zum Beginn der Aufklärung hatte das durch die Beschränkung auf die Völker des Mittelmeerraumes großartig geschlossene Geschichtsbild das abendländische Denken beherrscht. Seine wesentlichsten Bestandteile waren die alttestamentarische und die heidnisch-antike Geschichte, die zum Mittelpunkt, dem Erlösungstod Christi im römischen Weltreich zusammenliefen, um dann nach einer Epoche des Kampfes, vereint als Geschichte des Volkes und Reiches Christi, bis zum Jüngsten Gericht weitergeführt zu werden. So fielen Weltgeschichte und Heilsgeschichte zusammen, und Vorbereitung, Gründung, wie Verbreitung des christlichen Glaubens waren der einzige Gegenstand weltgeschichtlicher Betrachtung.

Dieses, durch den Verselbständigungs-prozeß der Renaissance berdits gefährdete Geschichtsbild hatte Bossuet noch ein letztes-mal als ein Monument der klassischen Geistigkeit Frankreichs unter Ludwig XIV., die Widersprüche mit mächtiger Hand zusammenzwingend, vor seine Zeitgenossen hingestellt. Die Ausweitung des räumlichen und zeitlichen Horizonts durch die zunehmende • Kenntnis der ägyptischen Geschichte, und die Kunde, die die christlichen Missionäre von der geschichtlichen Tradition der Chinesen nach Europa brachten, sprengten diesen Rahmen. Hätten die christlichen Chronologen durch einfache Zusammenzählung der Generationen in allzu wörtlicher Auslegung des Alten Testaments für die Zeit zwischen Weltschöpfung und Christi Geburt rund viertausend Jahre errechnet, so ließ sich nun die chinesische Geschichte in diesem Zeitraum nicht unterbringen. Darüber hinaus stellten die Freigeister der beginnenden Aufklärung mit Genugtuung die Vortrefflichkeit der vom Christentum unberührten chinesischen Religion, Kultur und Politik fest. Der chinesische Philosoph wurde zum bewunderten Vorbild und Konfuzius erschien als ein fernöstlicher Spinoza.

Voltaire, der in seinem „Essai sur les moeurs“ als erster ein. neues, weltumspannendes, nicht mehr auf das christliche Abendland beschränktes Geschichtsbild zu entwerfen unternahm, war ein eifriger Bewunderer der Chinesen. In den „Chinoiserien“, der Dekorationskunst des Rokoko, fand diese Vorliebe der europäischen Aufklärung für die fernöstliche Welt schließlich auch einen künstlerischen Ausdruck.

In den zweieinhalb Jahrhunderten seit der Ausweitung und Aufbrechung des spätantik-mittelalterlichen Geschichtsbildes wurde für jeden Versuch einer universalhistorischen Betrachtung die Einstellung zur religiösen Grundlage der abendländischen Kultur ein entscheidendes Problem. Am einfachsten gelang dies, wenn sich ein Betrachter als Nachfolger Voltaires auf einen außerchristlichen, wenn nicht antichristlichen Standpunkt stellte, wodurch das Christentum bestenfalls zu „einer der großen Weltreligionen“ wurde. Schwieriger wurde das Problem für den auf christlichem Boden stehenden Historiker, der sich das neue, weltumspannende Geschichtsbild zu eigen machen wollte. So hat Herder im siebzehnten, Buch seiner „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ Christus und das Christentum in die Darstellung des geschichtlichen Ablaufs aufgenommen und sich zugleich in tiefer Ehrfurcht vor der Göttlichkeit dieser Gestalt geneigt, indem er schrieb: „Wir wollen ihn, soweit es sein kann, nicht nennen: vor der ganzen Geschichte, die von Dir abstammt, stehe Deine stille Gestalt allein.“ So ergibt sich diese gewisse 'Kompromißhaltung, die auch Ranke von kirchlicher wie von antikirchlicher Seite zum Vorwurf gemacht wurde. Die schwierige Aufgabe, als Christ in der Neuzeit Weltgeschichte zu schreiben, ist Ranke durch die gegenständliche Beschränkung auf die Familie der Mittelmeervölker, also durch eine zumindest räumliche und zeitliche Erneuerung des zuletzt von Bossuet vertretenen Geschichtsbildes erleichtert worden.

Eine umfassende Universalgeschichtsschreibung wurde meist von Historikern betrieben, die dem Christentum zumindest indifferent gegenüberstanden, während Forscher, die sich persönlich zum Christentum bekannten, oft in bewußter oder unbewußter Selbstbeschränkung, Einzelprobleme und Abschnitte innerhalb des Rahmens der christlich-abendländischen Geschichte zum Thema wählten. Der Verlust an weltweiter Überschau wurde vielfach durch den Gewinn einer gründlicheren, tieferen Einsicht aufgewogen.

Trotz aller Forderungen nach einer wahrhaft globalen Geschichtsbetrachtung, Wieb — zumindest im Wissenschaftsbetrieb der europäischen Nationen — die eigentliche Geschichtsschreibung im wesentlichen auf die Vergangenheit der abendländischen Völker beschränkt, während die Geschichte der übrigen Völker und Erdteile vielfach von den Vertretern der Völkerkunde, der Anthropologie, Geographie oder Sprachwissenschaft betreut wurde. Von diesen, in extensiverer Arbeitsweise weitere Räume und Erdteile umfassenden Disziplinen sind auch meist die Versuche einer universalhistorischen Synthese unternommen worden. Solche Versuche haben nur selten die rückhaltlose Anerkennung der eigentlichen Historiker finden können, weil sie von . fremden, stärker systematisierenden und damit auch extensiver arbeitenden Wissenschaften ausgingen.

In dieser Entwicklung nimmt nun Rene Grousset als Geschichtsschreiber Asiens, in der asiatisch-europäischen Auseinandersetzung wie auch als Universalhistoriker eine besondere Stellung ein. Durch seine zahlreichen Arbeiten über die „Geschichte der orientalischen Philosophie“, die „Geschichte des Fernen Ostens“, die „Indischen Philosophen“, das „Reich der Steppe“ und das „Leben Dschingis-Khans“, die „Geschichte Asiens“ und die „Geschichte Chinas“, nicht zuletzt durch seine dreibändige, preisgekrönte „Geschichte der Kreuzzüge und des fränkischen Königreichs von Jerusalem“ und anderer Arbeiten hat er sich in der Welt der Orientalisten wie der Historiker einen Namen gemacht. „Sie kommen zu uns mit einem ganzen Kontinent in Ihrem Gepäck und mit welch einem Kontinent“, rief ihm Henry Bordeaux bei der Aufnahme in die Akademie zu.

Auf dem festen Boden sicherer Kenntnisse hat Grousset unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg das Wagnis unternommen, eine „Bilanz der Geschichte“ zu ziehen, die eine Gewissenserforschung der Menschheit darstellt. Die schon seit dem ersten Wehkrieg und zumal seit der tiefen psychologischen Wirkung Oswald Spenglers, das Abendland bedrückende Erkenntnis von der Sterblichkeit aller Kulturen und, die Sorge um den gefährlichen Zwiespalt zwischen der technischwissenschaftlichen und der sittlichen Entwicklung des Menschengeschlechts, steht auch hinter diesem Buch. Grousset prüft die Lösungen, welche die großen philosophischen und religiösen Systeme Asiens, der heroische Pessimismus der indischen Philosophie, der sanft-resignierte Pessimismus der buddhistischen Religion, der rationalistische Humanismus des Konfuzius und die pantheistischc Mystik“ des Taoismus bieten. - Während im Zeitalter der Aufklärung eine zumeist oberflächliche Kenntnis dieser Systeme und Religionen europäische Beobachter zu einem religionsgeschichtlichen Relativismus führten, zeigt heute das gründlichere, durch die unermüdliche Arbeit von Generationen fleißiger Orientalisten ermöglichte Eindringen, daß alle diese Lösungen für uns unannehmbar bleiben. Von Shiera, der nach dem Tode des Lebens auf den Totenschädeln gestorbener Götter seinen kosmisch-dämonischen Tanz tanzt, wendet sich dabei der Blick „zu der zweifellos größten Revolution aller Zeiten“, durch die „der Zeus des Phidias dem Schmerzensmann des Matthias Grünewald Platz gemacht hat“.

So bleibt die von der Existenzialphilo-sophie angebotene Verzweiflung oder eben die christliche Lösung. In einer abschließenden Betrachtung über einen Gedanken Pascals sagt.Grousset: „Wir wissen, daß der Martertod des Gottmenschen mit dazu diente, ihn zur Rechten des Vaters zu führen und m i t ihm die ganze von ihm erlöste Menschheit. Wir wissen und haben es eben gesehen, daß außer der christlichen

Lösung es nunmehr kein andere gibt, das heißt, keine für die Vernunft und das Herz annehmbare Lösung. Wenn die Welt nur das wäre, was sie zu sein scheint an dem Punkte, an den sie — mit dankenswerter Ehrlichkeit — die Wissenschaft und die wissenschaftliche

Philosophie unserer Zeit geführt haben, so wäre dies für die Vernunft sinnlos, abstoßend für das Herz. Das Christentum verkörpert heute, gegenüber einem so ungeheuerlichen Nichts, diese Auflehnung der

Vernunft und des Herzens, diese Verteidigung des Geistes. Und seine Sendu ng im Schiffbruch aller Hoffnungen — wenn es das Christentum nicht gäbe — ist mehr denn je heilbringend.“

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