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Einsamer Monch mit undichtem Regenschirm

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Darmstadt. Am Rosengarten. Häuser mit Pultdächern — Wappenzeichen ähnlich für solche, die schreiben. Um die Jahrhundertwende gab es eine erste Künstlerkolonie in dieser Jugendstil-Stadt. Ein Stelldichein von Architekten. Dies ist die zweite: das Ensemble aus Glas, Grün, Beton: Domizil für Schriftsteller. Hier wohnt Frank Thiess.

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Darmstadt. Am Rosengarten. Häuser mit Pultdächern — Wappenzeichen ähnlich für solche, die schreiben. Um die Jahrhundertwende gab es eine erste Künstlerkolonie in dieser Jugendstil-Stadt. Ein Stelldichein von Architekten. Dies ist die zweite: das Ensemble aus Glas, Grün, Beton: Domizil für Schriftsteller. Hier wohnt Frank Thiess.

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Frank Thiess, längst klassisch gewordener Romancier und Kulturphilosoph, ist er gleichwohl immer noch zuerst Zeitgenosse aus Engagement. Beim Cinzano mit Eis zielt er denn auch schon auf ein Zeitthema erster Ordnung — die „Gewalt“. Gewalt als Ergebnis willkürlichen Umgangs mit Technik und Geld, Gewalt aber auch, wie -sie aus der Luft auf uns zukommt: durch vpn uns beschworene Kräfte, die sich nun gegen uns wenden und zu Allegorien führen. „Deren schwerste, tödliche Fälle stellen der medizinischen Forschung noch ungelöster Rätsel.“ Werden wir — sind wir schon allergisch gegen uns selbst?

Doch mitten in der düsteren Vision, unvermittelt, verwandelt sich der Zeitddagnostiker in den Musikfreund: auf Wilhelm Furtwängler kommt er zu sprechen. Den unvergessenen Dirigenten. Man nimmt in seinem Gesicht eine Ähnlichkeit mit dem sensiblen, durchsichtigen Furt-wängler-Antlitz wahr. Man denkt zugleich an den „Roman einer Stimme“, den Frank Thiess um Enrico Caruso schrieb.

Sodann — jetzt beim Tee — der dritte Frank Thiess. Der Kenner und Deuter des großen Erzählers Fjodor Michailowitsch Dostojewski. „Realismus am Rande der Transzendenz“ heißt das Dostojewski-Buch, das er 1971 herausbrachte. Frucht jahrzehn-

In der letzten Nummer der FURCHE vom 2. Februar haben wir im Anschluß an den Artikel „Loris“ zwei Briefe Hofmannsthals an Eberhard von Bodenhausen abgedruckt. Die gesamte, sehr lesenswerte Korrespondenz zwischen dem Dichter und dem ihm nächststehenden Jugendfreund ist bereits 1963 in Buchform vom Eugen-Diederichs-Verlag herausgegeben worden. Diesem Buch haben wir die angeführten Briefe entnommen. Ftelangen Analysierens und Grübelns, schwerer Arbeit im Bergwerk des russischen Schriftstellers.

Dieses Wiewohl zum 150. Geburtstag Dostojewskis erschienene, auf der vorjährigen Frankfurter Buchmesse sehr beachtete Werk äst bisher über achthundert Exemplare nicht hinausgekommen. Woran liegt das? Daß die heutigen Menschen Dostojewski nicht mehr oder noch nicht verstehen? An der kryptischen Wirklichkeit, in die er den Menschen darstellt? Am universalen Untergrund, der von keiner Psychologie ausgelotet wird? Selbst nicht von der Wissenschaft des kollektiven Unterbewußten, der Psychoanalyse C. G. Jungs — die ihr, im Aufzeigen der Mythologeme freilich nahekommt

Sind aber nicht anderseits die heutigen Menschen auf der Suche nach eben dieser kryptischen Wirklichkeit ihrer selbst? Nach ihrem „größeren“ Ich? Mißtrauen sie nicht mehr und mehr den Psychologen, Psychoanalytikern, Psychotherapeuten, weil sie von ihnen immer nur Teilansichten, nie aber das Ganze ihrer selbst vorgesetzt bekommen? Transzendenz: „Immer wieder stoßen die Gestalten Dostojewski, Swidrigailow, Rogo-schin, Myschkin, Stawrogin, Nastasja, Filippowna und wie sie heißen, an diese Transzendenz wie an eine unsichtbare Mauer.“ Ob diese Transzendenz der Grund ist, weshalb so viele Menschen nicht zu Dostojewski finden? Weil sie diese Transzendenz fürchten?!

Frank Thiess, der sich schon 1911 in seinem ersten Aufsatz über die „Brüder Karamasow“ mit Dostojewski beschäftigte, den seither das Problem des „russischen Menschen“ („Tsushima“), ja des Unterschwelligen im Menschen über Jahre hin nie losließ („Sturz nach oben“), überrascht mit einem kühnen Aspekt. Er ist im Zentrum seiner Intentionen, bei seinem „großen Thema“. Dem Neuland aufschließenden Werk „Die griechischen Kaiser, die Geburt Europas“. Dieses Kompendium an Geschichte und Ethnographie, so sehr es als eine selbständige Schöpfung lebt, sieht er als eine religionspsychologische Vorstudie zur transzendentalen Orthodoxie Dostojewskis an. Die byzantinischen Herrscher von Justinian dem Ersten bis zu Leo dem Dritten, diese so gut wie unbekannten Ost-Rom-Imperatoren, denen das historische Verdienst zukommt, den Westen vor der Islami-sierung bewahrt zu haben, bringt er in eine geistige Verbindung mit den Phänomenen der Dostojewski-Epen. „Denn dem maßlos-phantastischen Menschen der byzantinischen Welt begegnen wir bei Dostojewski wieder.“ Eine kühne Brücke! Doch einleuchtend, wenn man vom Menschenbild ausgeht, das in Byzanz als dem orientalischen Europa ebenso wie in Rußland als einem Stück Osteuropa lebt.

Ein menschliches Selbstverständnis, anders als im Westen! Von keiner Renaissance berührt. Dafür dann, als der Skeptizismus es erreicht, im 19. Jahrhundert, um so verzweifelter darauf bedacht, sich in Frage zu stellen. Ein menschliches Selbstverständnis, von der Ganzheit des Menschen durchdrungen — der vollen kryptischen Wirklichkeit, einschließlich der Transzendenz. Durch eben diese Transzendenz, an die jede Hauptgestalt Dostojewskis, bis zur Verwundung, stößt, sind sie miteinander verbunden, sind sie ineinander integriert — „durch das Bewußtsein ihres Leidschicksals als einer entelechialen Vorbestimmung“.

Frank Thiess, dem byzantinischen und russischen Osten nahe — dem Russischen durch.. die russische Amme —, wird im Zuge schriftstellerischer Expeditionslust noch weiter gen Osten gedrängt. Nach China.

Er hatte vor einigen Jahren die seltene Gelegenheit, als Mitglied einer Schiffsbesatzung das Reich Mao Tse-tungs zu besuchen. Fasziniert steht er als kritischer Europäer, als illusionsloser Nachdenker über die Zukunft des Abendlands vor einem immensen Planquadrat, das jedem Klischee spottet. Da gibt es Kinder: sie zeigen die Höflichkeit einer uralten Kultur schon in ihrer Naivität. Da gibt es Intellektuelle und Menschen des einfachen Volkes in Reinkultur. Und nicht zuletzt — geradezu beschämend ist diese Einsicht — wissen sie ungleich mehr über uns als wir über sie. Frank Thiess bewundert die genauen Kenntnisse chinesischer Museumsleiter über unsere Antike. Er bewundert den Lyriker und Staatsmann Mao Tse-tung. Wie da ein Politiker und Landsknecht, Feldherr einer beinahe lächerlichen Bauernarmee, gegen massiven Perfektionismus siegt. Auch gegen einen degenerierten Konservatismus in der eigenen Welt aufsteht. Und wie dieser zähe Mann auf dem Gipfel des Ruhms sich nicht, in Stolz und Überheblichkeit verliert, sondern die diffizilste staatsmännische Aufgabe, die Entwicklung seines weiten Landes zu einem gesunden und starken Gesellschafts-wesen, bescheiden, unpretentiös in Angriff nimmt. „Mao selbst sieht dies als einen unsäglich harten Weg an, als einen .langen Marsch', wie er es in einem seiner Gedichttitel ausspricht.“

„Sein Wort zu Edgar Snow ist aus dem Geiste Laotses gesprochen: ,Ich bin nur ein einsamer Mönch, der durch die Wüste wandert mit einem undichten Regenschirm.'...“

Frank Thiess macht sich und anderen nichts vor. Er läßt die Grenze unberührt. China ist mit unseren Denk- und Wertungsmaßstäben nicht zu erfassen. Aber China mit seinen „neuen Menschen“ ist da als eine Tatsache, als eine neue Res publica innerhalb einer Kultur, die man als veraltet, als überlebt angesehen hat.

Frank Thiess hat von seiner China-Reise („Plädoyer für Peking“) Rollbilder, Vasen, auch eine Mao-Kalligraphie mitgebracht. Auf seinem Schreibtisch steht — nicht erst seit gestern — ein altchinesischer Tempelhüter, den sich der Dichter seit mehr als fünfzig Jahren, trotz mehrfacher Zerstörungen seiner Wohnungen durch Bomben, bewahren konnte. Sein Wort dazu: „Ich lerne von ihm die Ruhe des Asiaten und den Blick nach innen.“

In Nachtstunden greift Frank Thiess gern zu den Gesprächen mit Goethe: „Die Biedermann-Gespräche lese ich jetzt häufiger als die mit Eckermann“. Die Eckermann-Ge-spräche allerdings sind in seinen Augen ein „Gedächtnis- und Sprachwunder“. „So hat Goethe wirklich gesprochen, und aus dieser Übersetzung eines Geistes in das Ausdrucksvermögen eines genialen Hörers ist, mit Nietzsches Worten, das beste Buch in deutscher Sprache entstanden.“

Mit der Liebenswürdigkeit des Südchinesen blickt Frank Thiess nach acht Jahrzehnten in die Welt. „Der Südchinese ist nicht temperamentvoll, in ihm lebt eher eine bewegte Verschwiegenheit, deren Fassade die Höflichkeit und deren Bildung die Wahrung des Gesichts ist.“ Die Welt wird nie „in Ordnung sein“. Aber sie wird durch Weise wie Frank Thiess immer wieder zur Reflektion über ihre Ordnung verführt werden.

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