6563636-1949_23_10.jpg
Digital In Arbeit

Der ewige Dom

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn wir weit werden, wandelt Gott in uns. St. Augustinus

Die Verlassene fühlte, daß noch etwas in ihrem Leben getan werden mußte, aber sie gestand es sich nicht deutlich ein. Sie lebte so stark in der Erinnerung, daß sie auf der Straße junge Menschen ansprechen konnte wie ihren Sohn; daß sie, wenn sie zurückkam, wirklich meinte, das helle, warme Licht des Familienzimmers zu spüren, während der Wind durch die mühsam verklebten Scheiben blies und die arme Lampe auf dem kahlen Tisch wieder verflackerte und verlosch, weil es noch immer nicht gelungen war, die Stadt mit Strom zu versorgen. In einer kalten Nacht des Frühjahrs rief ihr ein Traum ein Bild zurück, das sie vergessen hatte oder dem sie bisher ausgewichen war: sie sah sich an der Seite ihres Mannes durch einen gewaltigen Dom schreiten — und sie wußte, es war der Dom zu Köln, den sie auf einer Reise besuchten; sie blickten beide in das Gewölbe hinauf, das sich in erhabener Ferne über ihnen schloß; niemals, auch nicht an dem Tage, da sie miteinander zum Altar geschritten, waren sie einander so nah; hier, in der Hauptstadt, kannten sie solche Räume nicht. Sie erinnerte sich auch beim Erwachen, daß dieses Glücksgefühl den ganzen Tag anhielt und noch viele Tage nachleuchtete und die Reise erfüllte: damals war die Seele des Mannes, der sich mehr und mehr in seine Arbeit vergraben und von ihr entfernt hatte, ihr aufgegangen wie das Gewölbe über ihren Häuptern. Das war wohl sein Eigentliches gewesen: der Blick in diese Höhe; darauf war er angewiesen, und vielleicht hätte sie ihn darin besser verstehen, ihn darin bestärken müssen.

Nun warf dieses nie ganz erschöpfte, nie ganz ergriffene Glück seinen Schein zurück in ihr zerbrochenes Leben. Wieder verbrachte sie den Tag, indem sie an Fernstehende, die sie kaum einmal gesehen, in gedrängter, merkwürdig verschlungener Schrift Briefe schrieb wie an Nahestehende; darin vermischten sich Bilder ihres Lebens mit Worten aus Büchern, mit Geschichten, die sie gehört; wieder versicherte sie, ihr Sohn liege nicht in der fernen Schneewüste im Grab; er lebe und sei auf dem Wege zu ihr; denn diese lichtblonden Haare könnten nicht von Erde bedeckt, diese strahlenden Augen nicht verschüttet worden sein. Auch die Geschichte des Vaters erzählte sie immer wieder, nur blieb sie darin der Wirklichkeit näher: daß er sich von ihr gelöst, nachdem die Versuchungen der Zeit ihn ergriffen und er sich hatte hinausreißen lassen in ein scheinbar glänzendes Leben von der einen der besetzten Hauptstädte zur andern, bis er auch die Familienbande brach, berauscht von einem unfaßbaren Glücksverlangen, und sich mit einer Andern verband. So fand der Sohn keine Heimat mehr vor auf seinem letzten Urlaub; das Heim war zertrümmert, eh seine Wände zerrissen wurden. Heimat war nur sie, die Mutter; und sie blieb seine Heimat, und er lebte in ihr und durch sie, erhalten von ihrem Herzen; ja, er konnte eintreten; er stand vielleicht schon neben ihr, da sie schrieb.

Aber am Abend, der früh und drohend, unter neu heraufgezogenen Regenwolken, hereinfiel, nahm sie die letzte Pflanze, die noch vor dem Fenster grünte — ein zähe lebendes, anspruchsloses Gewächs —, und wickelte sie in ein phantastisches Papier, das sie mit letzten Habseligkeiten, Photographien und Ansichtskarten, lange aufbewahrt hatte. Sie ging durch die Ruinenstadt über die Notbrücken, die die Bahnlinien kreuzten, dann über ein von Gräben durchzogenes, in Trichtern zerworfenes Vorfeld und fand auch wirklich den Friedhof. Denn sie hatte sich oft und oft danach erkundigt, aber diesen Weg war sie nie gegangen. Ein Wärter begegnete ihr in der Dämmerung; er hatte offenbar Mitleid mit ihrer Furcht, zurückgewiesen zu werden, und zeigte ihr die lange Gräberreihe, wo diejenigen lagen, die bei der Besetzung der Hauptstadt, sei es aus Verzweiflung oder aus Angst vor dem Kommenden, aus dem Leben geflohen waren. Der Wärter wußte auch den Namen und nannte die Nummer des Grabes: sie möge zählen, denn die Namen seien schon kaum mehr zu erkennen. Und nun eilte sie an den Gräbern hin und zählte, aufgeregt, ihrer Sinne kaum mächtig; hier stand der Name auf dem Grab, und sie wußte: die Andere mußte daneben liegen, denn sie war mit dem Treubrüchigen aus dem Leben geschieden. Hatte er sie erschossen oder sie ihn? Die Verlassene hatte es nie recht erfahren, vielleicht nie recht erfahren wollen; doch beharrte sie meist darauf, daß er von der Ehebrecherin erschossen worden sei, wie es gerecht war.

Aber nun rechtete sie nicht mehr; sie warf sich auf die Knie und grub mit hastigen ungeschickten Händen die Pflanze ein, während sich ein Gebet auf ihre Lippen drängte. Es wurde ihr leicht ums Herz: vor langen Jahren hatte die Pflanze einmal geblüht und Mann und Sohn hatten den schlanken Feuerkelch bewundert; vielleicht bedurfte sie nur der Erde, dieser Erde gerade, um wieder zu blühen. Die Blüte wurde immer wunderbarer vor den Augen der Verlassenen; schon wagte sie daran zu denken, daß sie hieher zurückkehren werde; da, als sie umkehrte, zählte sie die Gräber noch einmal, und nun bemerkte sie, daß sie sich in der Erregung geirrt und die Pflanze in das falsche Grab gesenkt hatte. Sie trat nahe an das schlichte Holzkreuz und las den verhaßten Frauennamen vor dem Namen ihres Mannes. Sie wankte, zögerte, fühlte, daß ihr eine Überwindung aufgetragen war, aber sie vermochte sich dazu nicht. Weinend in Zorn und Schmerz wühlte sie die Pflanze heraus und grub sie in das rechte Grab.

Erschöpft ging sie zurück; alles Befreiende war gewichen; es schien noch einmal kalt zu werden; in den Regen mischte sich Schnee, der durch das zertrümmerte Dach auf die einstmals glänzende Treppe und in den leeren Schacht des Aufzugs wirbelte. Wieder versuchte sie zu schreiben, aber die starren Finger versagten; mit der Pflanze war gleichsam die letzte Wärme aus dem zerstörten Raum geflohen.

Da, in der Nacht, sah sie den Dom wieder, sehr viel höher als das erste Mal; die Sterne hingen in seinen Gewölben, geheimnisvolles Singen hallte hindurch; unten drängten sich die Menschen; immer mehr Tote erschienen zwischen den Lebenden: alle, die hier jemals gekniet hatten, hier erhoben wurden, hier begraben waren. Sie fühlte, dieser Dom umschloß Volk und Welt und ein jedes Grab; und daß es ganz gleichgültig war, auf welchem Grabe die Blume der Liebe blühte. Der irdische Dom war das erhabene Bild eines noch weit größeren, in dem keine Grenze mehr ist zwischen Leben und Tod und alles Eigene, Eigensüchtige des Menschen beschämt wird: das erkannte sie, als sie erwachte. Es wäre ihr nun nicht mehr schwer gewesen, noch einmal zum Friedhof zu gehen und die Pflanze hinüber zu tragen, lieber aber tat sie es Tag für Tag in Gedanken, während sie unter den zerbrochenen Häusern dahinging, noch immer Briefe zur Post tragend oder vor sich hinredend oder einen jungen Menschen ansprechend. Ihr Leben, schrieb sie in einem ihrer sonderbaren Briefe, sei jetzt zum Weg geworden von einem Dome zu dem andern, unvergleichlichen, in dem alle Toten geborgen sind und keine Pfeiler zertrümmert in Ewigkeit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung