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J. S. Bach zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung

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Die Erkenntnis, daß der Geist das menschliche Tun und Lassen bestimmt, daß im tiefsten Sinn der Geist auch die Musik macht, hat den bekannten deutschen Musikwissenschafter und Publizisten Fred Hamei bewogen, J. S. Bachs geistige Welt, seine theologische und philosophische Weltanschauung zu untersuchen und darzustellen, wie sie sich vor dem Hintergrund der Zeit und im Wechselspiel mit ihren vielfältigen Kräften geformt hat. Abkunft, Umwelt und Erziehung im ersten Lebensjahrzehnt umschreiben jenen Kreis, der sich zwar gewaltig erweitern, aber nie sein Zentrum verlagern wird. Dieses heißt; selbstverständliche Glaubens fest’igkeit und schwärmerische Frömmigkeit. Der Aufenthalt im „Vestibulum Latinitatis“ in Ohrdruf hat keine tiefere Wirkung, ist freilich als Bil- dungserlebnas nicht zu unterschätzen. In Lüneburg wird er, vor allem durch Hutters „Compendium“, mit der Dialektik der Orthodoxie vertraut, in Arnstadt findet er seinen ersten Wirkungskreis von längerer Dauer und wird auf das Wesen der Kirchenmusik und ihre dnnere Gesetzlichkeit gewiesen. In Mühlhausen gerät Bach ins Kraftfeld des Pietismus, dessen religiösen Gefühlswerten er zugetan war und dessen Spuren sich in zahlreichen Kantatentexten finden. Aber der Pietismus erkennt die Kunst nur soweit an, als sie im Dienst der kontemplativen Erbauung und subjektiven Erweckung steht; alle selbständigen Erweiterungen der Kunstformen, insbesondere der Kirchenmusik mit ihrer Annäherung an Stilelemente der verpönten Oper, gelten als „sündhafte Greuel“, so daß Bach mit seinen Bestrebungen einer „regulierten Kirchenmusik“ zwangsläufig an die Seite des orthodoxen — das heißt: in Dingen der Kunst freizügigeren — Johann Christian Eilmar gedrängt wird.

Die neun Weimarer Jahre stehen ganz im Zeichen der „regulierten Kirchenmusik“. HieT gelingt ihm, im Bündnis mit der zeitgenössischen Dichtung, eine wirkliche Verschmelzung kirchlicher und weltlicher Elemente in der Kunstfoyn der Kantate. Im kalvinischen Köthen (1717—1723) ist Bachs geistige Welt von außen her starken Belastungsproben ausgesetzt. Er stärkt sich innerlich durch dde Lektüre zahlreicher theologisch-philosophischer Schriften, und ein Großteil deT theologischen Bibliothek Bachs (52 Werke von 27 verschiedenen Autoren) wurde hier zusammengetragen. Sie bestand aus Lehr-, Erbauungsund Streitschriften aus der reformatorischen und na-chreformatorischen Zeit, mit einer einzigen Ausnahme: Johann Taulers Predigten aus dem frühen 14. Jahrhundert. Diese Bibliothek kann, nach den Worten Fred Hamels, als ein getreues Abbild der Persönlichkeit ihres Besitzers gelten, als ein Makrokosmos der geistigen Welt J. S. Bachs, mit der Tonika des Luthertums, der Dominante der Orthodoxie und den modulatorischen Ausweichungen nach den Seiten von Mystik und Pietismus. Durch das Studium dieser Werke erwarb sich Bach das geistige Rüstzeug für die schwerste Auseinandersetzung, die ihm bevorstand: mit der Welt der Aufklärung in Leipzig.

Damit treten wir in einen dramatischen Abschnitt von Bachs Leben, der in Doktor Fred Hamei einen glänzenden und wohlunterrichteten Darsteller gefunden hat. Wir erfahren von den tieferen Ursachen des Kon- fliks mit dem jüngeren Ernesti, dem Wegbereiter der Bibelkritik. Denn hier geht es nicht mehr um „interkonfessionelle Auseinandersetzungen, wie zwischen Orthodoxie und Pietismus, sondern „die Aufklärung rüttelt an diesen Grundlagen selbst, sie greift über Orthodoxie und Luthertum hinaus bis an die Lebenswurzeln des Christentums überhaupt. Das bedeutet aber, daß sie von allen Gegenkräften, denen Bachs geistige Welt ausgesetzt ist, die weitaus gefährlichste ist. In ihr erst stößt er auf den letzten und mächtigen Widersacher . Aus Leipzig, der Hochburg der Aufklärung, stammt auch der „critische Musi- cus Johann Adolf Scheibe, der sein Blatt zwar in Hamburg erscheinen läßt, aber den Leipziger Geist nicht verleugnet. Nicht nur musikalische Kriterien, sondern auch Anspielungen auf Bachs mangelnde akademische, insbesondere philosophische Ausbildung werden jetzt vorgebracht. Die Großwerke der Leipziger Zeit wurden vor dem Konflikt mit Ernesti und Scheibe geschaffen. Danach setzt er „dem Säkularisationsgeist der Aufklärung das letzte Dennoch der Tat entgegen“: das Spätwerk der großen Choralkantaten. Die einzige Konzession an den Zeitgeist erblickt Hamei in dem Interesse, das Bach den spekulativen und musiktheoretischen Bemühungen L. Ch. Miz- lers entgegenbringt. Wir finden ihre Spuren in den Goldberg-Variationen, im „Musicali- schen Opfer und in der „Kunst der Fuge , die Hamei als Resultat der Aussöhnung zwischen der Welt des Glaubens und der Welt des Verstandes interpretiert. Aber das Schlußwort dieses Werkes ist der Orgelchoral „Wenn wir in höchsten Nöten sein“, dessen Titel Bach nachträglich änderte („Vor Deinen Thron tret ich hiemit ).

Bachs Werk und seine geistige Welt haben allen Verdunkelungsversuchen widerstanden, auch denen der „Gottgläubigen“. In seinem Werk aber wirkt sich ein elementares Naturereignis aus, das Gesetz von der Umkehrbarkeit der Energie: „Diese geistigen Kräfte, die der Mensch und Künstler Bach in sich aufnahm — sie sind es auch, die heute noch mit unverminderter Intensität von seinen Werken in die Welt ausstrahlen.

Nach der Lektüre von Hamels Buch können wir uns ein genaues und umfassendes Bild von Bachs geistiger Welt machen. Der Autor hart, gestützt auf das eindringende Studium vor allem der theologischen und philosophischen Literatur der Bach-Zeit, nicht nur die Bach-Literatur, sondern auch die deutsche Geistesgeschichte um ein sehr wertvolles, sauber und prägnant geschriebenes Werk bereichert.

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