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Das Kantatenwerk

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Um auch dem leisesten Verdacht auf akademisches Theoretisieren aus dem Wege zu gehen, wurde das Bach-Fest 1970 nicht mit dem üblichen Einleitungsvortrag einer professoralen Instanz, sondern ausschließlich mit Musik des Thomas-Kantors eröffnet. Triebkraft war auch in diesem Jahr Karl Richter. Zugegeben, die Komplikationen häuften sich: Jean-Pierre Rampal, Ernst Haefliger, Helen Donath und Dietrich Fischer-Dieskau sagten ab, der hervorragende französische Bach-Trompeter Pierre Thibaud hatte das ganze Brandenburgische Konzert Nr. 2 hindurch mit einem Defekt seines Instrumentes zu ringen, und der Kantatenabend in der Michaelskirche ist kritisch nicht zu würdigen, nachdem die akustischen Verhältnisse eine Beurteilung unmöglich machen. Das sind technische Pannen, die sich nicht ausschließen lassen, dagegen fallen Fehldispositionen innerhalb der Gesamtkonzeption schwerer ins Gewicht.

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Um auch dem leisesten Verdacht auf akademisches Theoretisieren aus dem Wege zu gehen, wurde das Bach-Fest 1970 nicht mit dem üblichen Einleitungsvortrag einer professoralen Instanz, sondern ausschließlich mit Musik des Thomas-Kantors eröffnet. Triebkraft war auch in diesem Jahr Karl Richter. Zugegeben, die Komplikationen häuften sich: Jean-Pierre Rampal, Ernst Haefliger, Helen Donath und Dietrich Fischer-Dieskau sagten ab, der hervorragende französische Bach-Trompeter Pierre Thibaud hatte das ganze Brandenburgische Konzert Nr. 2 hindurch mit einem Defekt seines Instrumentes zu ringen, und der Kantatenabend in der Michaelskirche ist kritisch nicht zu würdigen, nachdem die akustischen Verhältnisse eine Beurteilung unmöglich machen. Das sind technische Pannen, die sich nicht ausschließen lassen, dagegen fallen Fehldispositionen innerhalb der Gesamtkonzeption schwerer ins Gewicht.

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Um auch dem leisesten Verdacht auf akademisches Theoretisieren aus dem Wege zu gehen, wurde das Bach-Fest 1970 nicht mit dem üblichen Einleitungsvortrag einer professoralen Instanz, sondern ausschließlich mit Musik des Thomas-Kantors eröffnet. Triebkraft war auch in diesem Jahr Karl Richter. Zugegeben, die Komplikationen häuften sich: Jean-Pierre Rampal, Ernst Haefliger, Helen Donath und Dietrich Fischer-Dieskau sagten ab, der hervorragende französische Bach-Trompeter Pierre Thibaud hatte das ganze Brandenburgische Konzert Nr. 2 hindurch mit einem Defekt seines Instrumentes zu ringen, und der Kantatenabend in der Michaelskirche ist kritisch nicht zu würdigen, nachdem die akustischen Verhältnisse eine Beurteilung unmöglich machen. Das sind technische Pannen, die sich nicht ausschließen lassen, dagegen fallen Fehldispositionen innerhalb der Gesamtkonzeption schwerer ins Gewicht.

Richter holte sich keine echte Konkurrenz zu Gast, obwohl er eine solche nicht zu scheuen hat. In einem Bach-Fest sollten verschiedenartige Wege der Bach-Interpretation aufgezeigt werden, und eine Konfrontation möglichst entgegengesetzter Auffassungen könnte sich wohl nur belebend auswirken. Karl Richter sollte es sich nicht versagen, beispielsweise das Leonhardt-Consort aus Amsterdam zu verpflichten, den Wiener Sachwalter der Bach-Pflege, Nicolaus Harnoncourt, den Engländer Malcolm, die Scola Cantorum Basi-liensis oder Neville Marriner mit seinem Ensemble „St. Martin-in-theFields“. So stand Ralph Kirkpatricfc mit einem Cembalokonzert als einziger Antipode Karl Richter gegenüber. Die „Festival Strings Lucerne“ zählen hier nicht mit. Rudolf Baumgartner hatte sich mit seinen 14 Damen und Herren viel vorgenommen, und die h-Moll-Suite ist auch sehr ordentlich gelungen, dank des exzellenten Flötisten Andreas Adorjan; aber in den von Mozart bearbeiteten drei Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“ häuften sich stilistisch unangebrachte Crescendi und Diminuendi, und das Konzert für drei Violinen und Streichorchester in der RückÜbertragung Rudolf Baumgartners war ein Mißgriff. Nachdem man annehmen darf, daß Baumgartner bei dieser RückÜbertragung keine Notationsfehler unterlaufen sind, müssen die Intonationsschwankungen den drei Solisten angelastet werden, und das ist eben nicht unbedingt das Format, das man bei einem Bach-Fest erwarten darf. Noch unbegreiflicher bleibt jedoch die Idee, Werner Egk als Dirigenten für die „Kunst der Fuge“ zu verpflichten. Hätte der Komponist Egk eine eigene Fassung dieses fundamentalen Werkes vorgestellt, wäre das noch verständlich gewesen, aber er dirigierte die bei den Ansbacher Bach-Wochen gebräuchliche Fassung für Streichorchester von Klemm und Weymar, und er ließ diese „hohe Schule der Polyphonie“ musizieren wie eine frühklassische Symphonie oder eine Suite des Christoph Willibald von Gluck. Natürlich hat es etwas Spektakuläres, wenn man Werner Egk, der zu den wenigen deutschen Opern- und Ballettkomponisten zählt, die im internationalen Musikleben im Gespräch sind, bei einem Bach-Fest auf das Dirigierpodium bittet, eine künstlerische Notwendigkeit besteht jedoch nicht, und solche Ausrutscher in der Gesamtkonzeption können auch Werner Egk persönlich nicht dienlich sein. Ein Ereignis waren dagegen die Kanons, die Richter als asketischverhaltene Orgelinterludien zwischen die Orchestersätze dieser „Kunst der Fuge“ stellte, und so war es immer wieder doch Karl Richter,der zu faszinieren verstand. Schon der Auftakt zu diesem Bach-Fest 1970 mit der Kantate „Erschallet, ihr Lieder“ hatte Format. Richters Interpretation hat etwas Befreiend-Ehrliches, Barock-Vitales, er zählt nicht zu der Sorte von selbstgefälligen Pultstars, die aus sogenannter Ehrfurcht vor Bach vergessen, daß dieser Mann in erster Linie ein Musiker war und nicht jener ,.13. Apostel“, zu dem er in völliger Verkennung der echten Frömmigkeit Bachs, bisweilen gemacht wird. Diese gelöste Offenheit, die bei Richter immer deutlicher zum Ausdruck kommt, ist auch sogleich die Beantwortung der Frage, warum so offenkundig viele junge Menschen in seine Konzerte strömen. Die Kantaten waren in diesem Jahr der absolute Mittelpunkt, und Richter ist es, der die kosmische Ordnung, die in dem gesamten Bach-schen Kantatenwerk herrscht, suchend und formend zu exemplifizieren versteht.

An dieser Stelle müssen Bach-Chor. Bach-Orchester und die Solisten Antonia Fahberg, Hertha Töpper, John van Kesteren und Kieth Engen genannt sein, die bei extremer Hitze und einem weitgespannten Arbeitspensum Vortreffliches leisteten. Sie waren auch vereint — nachdem in einer sonntäglichen Matinee Otto Büchner mit seinem Rundbogen in der Solo-Partita d-Moll stürmischen Beifall erhalten hatte —, als Karl Richter mit der Hohen Messe zum krönenden Abschluß des diesjährigen Bach-Festes ansetzte. Auf die Interviewfrage — die wir Karl Richter vor einiger Zeit stellten —, „inwieweit er sich als ein Mann der evangelischen Kirche verstanden wissen möchte“, sagte er in lässiger Bestimmtheit: „Die konfessionelle Trennung ist nicht mehr interessant, und die Musik soll nicht trennen, sondern binden!“ Von dieser Geisteshaltung schien die Aufführung der Hohen Messe getragen. Sie hatte innere Größe, zu dem kalten Licht sächsisch-protestantischen Barockglanzes gesellte sich der südländisch-warme Kerzenschein des „... et unam sanetam catholicam et apostolicam ecclesiam“ dieser Missa. Karl Richter hatte über die musikalische Artikulation hinaus zu einer geistigen Aussage gefunden!

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