Gereinigt und entstaubt

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Klaus Eidam reinigte J. S. Bachs Leben von dem, was ein Biograph vom anderen abschrieb.

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Klaus Eidam reinigte J. S. Bachs Leben von dem, was ein Biograph vom anderen abschrieb.

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An Biographien Johann Sebastian Bachs ist gewiß kein Mangel. Der bevorstehende 250. Todestag wird etliche hinzufügen. Mit Bach kann man als Autor oder Gelehrter auf sich aufmerksam machen. Viele Legenden und Irrtümer haben sich festgesetzt, so daß der echte Bach nicht mehr klar erkennbar ist. So mag sich Klaus Eidam als Reiniger sehen, der unser Bach-Bild von Verfälschungen, getreulich von einem Biographen zum nächsten getragen, befreien mußte.

Er hat sich nur eine kleine Schar früherer Biographen vorgenommen, wobei er die älteren wie Philipp Spitta, Charles Sanford Terry, Albert Schweitzer als Pioniere achtet. Aber ihre Irrtümer müssen aufgeklärt werden. Bei den Jüngeren ist er strenger und die marxistisch geprägte DDR-Schule, die Bach partout vom "Fünften Evangelisten" in einen Aufklärer verwandeln wollte, wird barsch abgetan. Der aus Chemnitz gebürtige Organist und Musikschriftsteller Eidam findet das meiste Bach-Verständnis bei Musikern oder einem "musikalischen" Dichter wie Goethe und seinem bekannten Wort, es sei bei Bachs Musik, "als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte".

Eidam führt den Leser dorthin, wo Bach lernte, an seine Wirkungsstätten in Arnstadt, Mühlhausen, Weimar, Köthen, wobei Leipzig (27 Jahre!) die dauerhafteste, aber nicht die erfreulichste war. Wurde ihm lange "sooft ihm eine Tür zuschlug, auch immer wieder eine andere aufgetan", so erlebte er in Leipzig die tiefsten Demütigungen und vielfaches Unverständnis. Natürlich konnten die wenigsten sein Genie erahnen. Aber Eidam zeigt, daß weder Jähzorn noch Mangel an Organisationstalent ihn so oft scheitern ließ. Für einen Posten in Hamburg hätte er soviel Schmiergeld zahlen müssen, daß er auf Jahre verschuldet gewesen wäre. Die Nachfolge Buxtehudes in Lübeck war mit der Auflage verbunden, die Tochter des Verstorbenen zu heiraten: häßlich, dick, neun Jahre älter als er. In Arnstadt, wo er mit Gymnasiasten einen Chor aufbaute, fielen sechs Primaner (zum Teil älter als er!) nachts mit Knüppeln über ihn her - eine Episode, die meist bagatellisiert wird. Eidam nimmt sie ernster: "Musiker sind außerordentlich verletzlich ... Ein gezielter Knüppelschlag auf die Hand, und Bachs Leben hätte einen völlig anderen Verlauf genommen." In Weimar, wo er den Rang eines Lakaien hatte, fand er noch nicht die Atmosphäre der Klassik vor. Eidam widerspricht jenen, die den Herzog Wilhelm Ernst für seine Bildungsarbeit loben. Schulpflicht und Gründung eines Gymnasiums? Nachholbedarf gegenüber vergleichbaren Residenzen!

Bach geriet nach anfänglich ersprießlicher Arbeit in herzogliche Familienstreitigkeiten, die sich für ihn in kleinlichen Schikanen äußerten, ihm der Herzog das teure Notenpapier strich und ihn, als er Weimar verlassen wollte, drei Wochen einsperrte. Erst Interventionen von anderen Fürstlichkeiten befreiten ihn. Das ist aber zugleich ein Beweis dafür, daß Bach schon bekannt und angesehen war. Überhaupt wehrt sich Eidam gegen jede Herabsetzung. Ob es sich um Heinrich Besselers Satz "Er kam erst spät zur Reife" handelt, der ausgerechnet auf die fruchtbaren neun Jahre in Weimar gemünzt ist, ob um Spittas Behauptung "Er kam früh zum Stillstand" oder um Schweitzers Urteil, es gehe "nichts von ihm aus".

In Leipzig, wo er nur wenige glückliche Jahre erlebte, wo er an der Musikferne des Rates, dem Neid des Schulrektors, den Intrigen der Universität litt, schrieb er seine größten, reifsten Werke - wenn sie auch zu Lebzeiten nicht gedruckt und kaum aufgeführt wurden. Die Matthäus-Passion, sein großer Schritt zur Musikdramatik, trug ihm die bösesten Vorwürfe ein. Denn er hatte ja seine Musik für die Kirche so zu machen, "daß sie nicht zu lange während und nicht zu opernmäßig herauskommen" sollte. Eine Drei-Stunden-Passionsmusik, mit unzulänglichen Mitteln, noch dazu in der falschen Kirche: das war zu viel.

Genie ohne Auftrag Eidam lobt Bachs "Riesengeduld", die weit besser nachzuweisen sei als sein angeblicher Jähzorn, erinnert auch daran, daß viele Orgelwerke gar nicht für den Gottesdienst bestimmt sein konnten, daß er seine größten Werke ohne Auftrag, für sich und seinen Drang, der Musik die letzten Geheimnisse zu entlocken, geschrieben hat. Bestimmt die h-moll-Messe, die "Kunst der Fuge", das "Wohltemperierte Klavier". Das "Musikalische Opfer", eine "Aufgabe", die ihm der Preußenkönig Friedrich II. gestellt hatte, hat er auch quasi für die Schublade geschrieben. Der "Große König" und Musiker hat sie nicht einmal angesehen. Aber Bachs Freude an der Musik war nicht zu erschüttern.

Man soll nicht zu viel in sie hineindeuten wollen, meint Eidam und zitiert Leonard Bernstein: "Die Bedeutung der Musik liegt in der Musik und sonst nirgends." Und kommt auf das Orgelbüchlein zu sprechen, das Bach angeblich für seinen Sohn Wilhelm Friedemann geschrieben habe. Der war aber erst sechs und konnte von der Orgelbank noch nicht das Pedal erreichen. In Wahrheit sei es einfach für die Schüler verfaßt worden, die Bach immer im Hause hatte.

Dagegen sei das Notenbüchlein, das er für seine zweite Frau Anna Magdalena anlegte, als eine Sammlung musikalischer Liebeserklärungen aufzufassen. Die zweite Heirat nach dem plötzlichen Tod der ersten Frau erklären die meisten Biographen aus der Notsituation eines großen Haushaltes. Von der außerordentlichen Liebe sei nirgendwo die Rede, ärgert sich Eidam. Die Söhne aus erster Ehe haben allerdings die Stiefmutter, die 16 Jahre jünger als der Vater war, wohl nie recht akzeptiert. Jedenfalls hat keiner sie in ihrem armseligen Witwendasein unterstützt.

Bach hat gern und viel "zur Ergötzung" auch "leichte" Musik geschrieben, er hat in seine geistlichen Werke "weltliche" Melodien übernommen, aber nie umgekehrt geistliche Musik profaniert. Bei allen Differenzen über die Frömmigkeit Bachs könne man sich wohl auf den Satz Eidams einigen: "Wer mit seinem Leben in Gott ruht, muß nicht den ganzen Tag beten." Abgesehen von seiner Fähigkeit der leicht faßlichen, ja spannenden Darstellung beeindrucken bei Eidam die große musikalische Kompetenz, die Fähigkeit, sich in Zeit und Umwelt Bachs zu versetzen und die Bereitwilligkeit, die Originalquellen zu studieren. Von mancherlei Unfug der Deuter befreit, tritt Bach uns in seiner ganzen Größe entgegen. Zum Schluß gibt es noch ein Zitat von Bernstein: "Bach war ein Mensch und kein Gott; aber er war ein Mann Gottes und seine Musik von Anbeginn bis Ende von Gott gesegnet."

Das wahre Leben des Johann Sebastian Bach. Von Klaus Eidam. Verlag Piper, München 1999. 430 Seiten, geb., öS 358,-/e 26,02

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