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Neue Musik aus Frankreich

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Der Initiative des Leiters der österreichischen Gesellschaft für Musik, Harald Goertz, verdanken diejenigen, die sich über jüngste Entwicklungen der Neuen Musik auf dem laufenden halten wollen, die Bekanntschaft mit einigen unter dieses Etikett fallenden Importprodukten aus Paris. Antoine Golea, einst wortgewandter Anwalt der meisten Experimente, stand an der Spitze der Delegation und verantwortete deren Programm; heute ist auch er von der Ergebnislosigkeit aller Bemühungen enttäuscht. Vor kurzem hatte in Paris das Musikfest der „Internationalen Gesellschaft für neue Musik“ stattgefunden: aus 1200 Partituren wären 45 zur Ur- oder Erstaufführung ausgewählt worden — aber auch diese Auswahl hätte lediglich das Bild lähmender Langeweile vermittelt; das Publikum hätte nicht einmal Anlaß zum Protest gefunden. Golea führt die derzeitige Flaute auf das Übermaß an Technik zurück, die jeder einzelne Komponist ins Spiel bringe, um sich von andern zu unterscheiden, und darauf, daß bei dieser Fixierung die echten Werte — Persönlichkeit, Talent, Stil — einfach zu kurz kämen. Ob da allerdings nicht Ursache und Wirkung verwechselt werden?

Jedenfalls schien auf diese Weise die Abwesenheit wirklich junger Komponisten entschuldigt: nach Golea gäbe es keinen unter ihnen, der im Moment als repräsentativ zu gelten hätte. Die beiden Komponisten, die dieser Ehre für würdig gehalten wurden, waren Rene Koering und Andre Boucourechliev, beide jenseits der Vierzig. Der Erstgenannte, persönlich anwesend, fand im Parennin-Quartet versierte Anwälte seiner Bemühungen, auf der

Linie von Arnold Schönberg weiterzukommen. Immerhin ist das Experiment interessant, wenn nicht neu; in Frankreich dürfte es allerdings eher selten sein, daß der Weg in die Zukunft unter Umgehung De-bussys gesucht wird. Das im vergangenen Jahr in Royan uraufgeführte Werk schließt etwa an den Schön-berg des in Amerika entstandenen Streichtrios an, sein Komopnist beruft sich — auch dadurch ist ein gewisser Zusammenhang gegeben — auf seelische Erlebnisse, die er, wie der Patient dem Psychiater, zu beichten gedachte. Der emotionelle Gehalt, zweifellos vorhanden, gelangt zwar auch ohne Psychoanalyse zum Hörer, wird aber kaum durch Form oder Formwillen gebändigt; allerdings ist man heute schon dankbar, wenn der Klangeindruck einigermaßen „normal“ wirkt. Ähnliche, dem Streichquartett adäquate Normen schufen auch die Basis für eine positive Rezeption des „Archipel IV“ von Boucourechliev, ein Werk, dessen Konstruktion freilich weitaus komplexer ist, vom Komponisten aber — wie behauptet wurde — jederzeit voll verantwortet wird: die auf riesigen Partiturseiten verteilten Noteninseln können dabei nach dem Willen der Interpreten in verschiedener Reihenfolge und Kombination angesteuert werden, worüber sie sich durch Zurufe verständigen. Überraschenderweise führte diese halbalea-torische Odyssee zu teilweise auch in formaler Hinsicht verständlichen und klanglich akzeptablen Ergebnissen; daß sie um die Hälfte zu lang geriet — ist dafür nun der Schöpfer verantwortlich zu machen, oder der Steuermann? Zwischen den beiden Werken sang Colette Herzog, die Gattin Goleas, einiges im Zeichen der Rehabilitation und Nostalgie: eine 1961 geschriebene, aber erst an diesem Abend uraufgeführte Konzertarie von Andre Tisne, einem weniger bekannten Außenseiter, der sich indessen als durchaus profilierter Tonsetzer erwies, eine Impression des heute 76jährigen George Auric, und eine Kollektivkomposition, die der, übrigens ausgezeichneten, Sängerin von fünf Autoren gewidmet worden war — alles Werke von Charakter und Haltung, wenngleich recht bescheidener Aussage. Immerhin schien Goleas Auswahl im gegenwärtigen Moment tatsächlich jenem Kompromiß zu entsprechen, der zwischen Neuheit und Musik notwendigerweise zu schließen ist.

Ein wahrer Meister dieses Kompromisses wurde vor hundert Jahren geboren: Maurice Ravel. Seiner wurde in einer Veranstaltung des Französischen Kulturinstitutes im Palais Lobkowitz gedacht, bei dem die Pariser Gäste einige seiner Werke in authentischer Interpretation vortrugen.

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