6609126-1954_40_04.jpg
Digital In Arbeit

Die Zukunft der Volksoper

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Jahr vor der Eröffnung der neuerstandenen Wiener Großen Oper wird das Problem des zweiten Hauses akut, das mehr als ein Wiener Problem ist und auch kein bloß österreichisches. Man kann die stark reduzierte Zahl der wesentlichen großen und ständig spielenden Heimstätten des musikalischen Theaters bereits mühelos überblicken; mehr oder weniger „Verlustgeschäfte" im materiellen Sinn, wollen sie auf klein gewordenem Raum in aktiver Defensive gegen technische Neuerungen und zunehmenden Managergeist in der Kunst ein bedeutendes Erbe für die Zukunft bewahren und bereichern. Jedes einzelne Institut wird so zum entscheidenden Faktor für den Fortbestand der dramatischen Musik.

Es ist begreiflich, daß der neue Wiener Staatsoperndirektor alle künstlerischen und materiellen Mittel auf die Wiedererrichtung und den Spielplan des alt-neuen Hauses konzentrieren will. Und es lag darum doppelt nahe, daß sich nunmehr die Stadt Wien in den produktiven Wettstreit einschalte, eines der beiden freiwerdenden Häuser übernehme und neben der staatlichen die städtische Musikbühne errichte. Nun hat aber die „Sozialistische Korrespondenz" offiziös erklärt, daß man im Rathaus nicht gesonnen sei, Theater zu übernehmen, „nur um ihre Defizite mit Geldern zu decken, die für unaufschiebbare kommunale Aufgaben gebraucht werden". Das offizielle Wien wolle nicht „den Privattheatern das kaufmännische Risiko abnehmen, das jeder Unternehmer tragen müsse", denn die Führung von Theatern in den österreichischen Landeshauptstädten und in vielen deutschen Städten bedeute nach Ansicht der „Sozialistischen Korrespondenz" nur, „daß diese Gemeindeverwaltungen soziale und kulturelle Aufgaben erfüllten, von denen sich die Privatwirtschaft stets gedrückt habe". Damit schien auf Grund früherer Erfahrungen das Stichwort für die Umwandlung der im Besitz der Stadt Wien befindlichen heutigen Volksoper in ein Kino gegeben. Und auch ein beschwichtigender Leitartikel im sozialistischen Zentralorgan konnte sich drei Tage später nach durchaus begrüßenswerten allgemeinen Feststellungen über „Kommunale Kulturpolitik" doch nur zu der Zusicherung verstehen, die Gemeinde werde in ihrem Programm der Entfaltung Wiens zur Weltstadt „auch die Sorge um echte Theaterkunst nicht vergessen und' nicht vernachlässigen", könne aber dieses dornige Problem „nicht von heute auf morgen lösen, insbesondere wenn eine weltpolitisch so angespannte Situation wie die heutige weite Um sicht und strenge Gewissenhaftigkeit in der Reihung wie in der Erfüllung der Aufgaben erfordert". Wenn es abschließend heißt: „Opfer müssen von allen Seiten gebrächt werden" und Wiens Theaterwesen werde „schließlich nicht zu kurz kommen", ist dies angesichts einer Lage, die bindende Entscheidungen in allernächster Zeit erfordert, gewiß als Hinweis darauf zu verstehen, daß die derzeit für die Wiener städtischen Finanzen Maßgebenden ihre „weltstädtischen" Aspirationen mit Ausschluß der dramatischen und erst recht der musikdramatischen Künste zu verfolgen gedenken.

So ergibt sich die Notwendigkeit einer Ueber- prüfung der ursprünglichen Planungen. Denn es scheint, daß Oesterreich sich selbst und der Welt gegenüber eine Verpflichtung einzulösen hat; und es wäre überdies schon rein wirtschaftlich kaum zu verantworten, ein höchst erfolgreiches, für breite heimische und auswärtige Besucherkreise attraktives Haus vorschnell zu liquidieren.

Bei den nun anzustellenden Ueberlegungen empfiehlt es sich vielleicht, den Begriff der „Volksoper" Zu revidieren und nicht länger als zweitrangige, „volkstümliche" Ausgabe des echten Opernrepertoirs aufzufässen; sondern als die eigenständige Gattung der „opera co- mique" im weitesten Sinn mit einer Spannweite von Strauß und Offenbach bis etwa zu Ziehrer und Edmund Eysler. In diesem Sinn könnte wohl das bisherige Haus der „Staatsoper in der Völksoper", ohne den Etat und die künstlerische Kapazität der künftigen Staatsoper zu belasten, als selbständiger Organismus direkt der Bundestheaterverwaltung unterstellt werden, könnte mit dem heutigen Orchester, Chor und einem Teil des Ensembles auch die noch lange nicht ausgeschöpften Vorstellungen klassischer Operetten der letzten Jahre übernehmen und die hier geschaffene Tradition der „großen Operette" weiterbilden. Damit wäre nicht nur dem sozialen Faktor Rechnung getragen und eine bedenkliche Schrumpfung des Wiener künstlerischen Potentials vermieden. Die Stadt Wien war als Theaterstadt auch seit jeher die Heimat der Operette. Es ist Pietät, echter Denkmalschutz und eine unabdingbare Aufgabe, hier weiterhin das „klassische" Erbe zu betreuen und durch umsichtige Verbreiterung der Basis neu zu erschließen. Neben Johann Strauß '(von dem noch lange nicht alles für die Gegenwart wiedergewonnen wurde) und seinen Wiener Zeitgenossen wären auch die kongenialen Franzosen der großen Blütezeit neu zu gewinnen:

Offenbach, Lecocq, Herve, Maillart. Und gerade von Wien aus könnte diese dringend erwünschte Renaissance, der heiteren Spieloper dem Theater über Oesterreich hinaus neue. Impulse geben., Eine weitere Aufgabe, die sich eine zielbewußte Dramaturgie zu stellen hätte, wäre die Amalgamierung und Verpflanzung bisher unerschlossener Sphären, etwa der spanischen Werke des Genres, vor allem aber der amerikanischen „musicals", die eine neue Form des musikalisch-dramatisch-tänzerischen Gesamtkunstwerks so erfolgreich und anregend verwirklicht haben (wir denken da vor allem an die späten Arbeiten Kurt Weills, ebenso aber auch an Werke in der Art von Gershwins „Porggy and Bess").

Welche andere europäische Stadt wäre für eine solche Aufgabe so prädestiniert wie Wien, das nicht nur alle Vorbedingungen in anderswo kaum überbotener Fülle bietet, sondern auch den Ruf als eine Hauptstadt des musikalischen Welttheaters zu verteidigen hat? Es geht hier ja um weit mehr als um einen beliebigen Zweig der Amüsierbranche; es geht um echte, lebendige oder lebensfähige Werte, die auch den „unsichtbaren Export" kultureller Güter entscheidend beeinflussen könnten. Und es geht sehr wesentlich um österreichischeRepräsen- tation; nicht in letzter Linie muß erwogen werden, daß ein selbständiges und künstlerisch aktives Wiener Ensemble hohen Niveaus die erfolgreichen Auslahdsgastspiele unserer Staatsoper durch ebenso aussichtsreiche und viel extensivere Tourneen mit authentischer und autochthoner Wiedergabe von Meisterwerken der leichten Muse ergänzen und damit gleichfalls eine Mission erfüllen konnte.

All dies legt den Wunsch nahe, die in Bewegung geratene Diskussion intensiv fortzuführen und eine Entscheidung Zu treffen, die Oesterreich und Seine Hauptstadt vor der Zukunft verantworten können.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung