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Mozart in England

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Bei der Feier zum 200. Geburtstag von Mozart in der österreichischen Botschaft, London, hielt eine der führenden Persönlichkeiten des englischen Kunstlebens eine Rede, die wir hier in Uebersetzung wiedergeben:

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Bei der Feier zum 200. Geburtstag von Mozart in der österreichischen Botschaft, London, hielt eine der führenden Persönlichkeiten des englischen Kunstlebens eine Rede, die wir hier in Uebersetzung wiedergeben:

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Ich glaube, daß Mozarts Genie etwas so Universales und Allumfassendes ist, daß es einem durchschnittlichen — oder vielleicht ein wenig unterdurchschnittlichen — Musikliebhaber erlaubt sein mag, in aller Bescheidenheit der Dankbarkeit und Bewunderung anderer gewöhnlicher Menschen Ausdruck zu geben. Ich muß jedoch hinzufügen, daß dies noch vor 30 Jahren kaum möglich gewesen wäre, denn der gewöhnliche Sterbliche (zum Unterschied von dem reichen Amateur) würde verhältnismäßig wenig von Mozarts Musik gehört haben. Vor 1922“ gab es kein Radio, und obwohl genug Grammophonplatten zu haben waren, gab es, so glaube ich, vor dem Jahre 1924 nicht eine einzige vollständige Aufnahme von Mozarts Instrumentalmusik und schon gar keine Aufnahmen ganzer Opern, wie uns diese heute zur Auswahl stehen. Ich erinnere mich noch der Klage eines bekannten Mozart-Biographen, daß er noch nie „Idomeneo“ gehört habe ...

Noch bis in die vierziger Jahre war es möglich, daß die Mittagskonzerte der National Gallery — so häufig von den Sirenen der Luftangriffe begleitet — über 30 Werke von Mozart in ihre Programme aufnehmen konnten, die noch nicht in England öffentlich aufgeführt worden waren. Und was „Cosi fan tutte“ angeht, so war diese heute zum Spielplan einer jeden Opernkompanie gehörende Oper vor 1930 in England fast unbekannt.

Und hier möchte ich die Leistungen von drei Männern lobend erwähnen, denen die Umwandlung dieser Situation zuzuschreiben ist. Der erst ist der Dirigent Sir Thomas Beecham,dessen Mozart-Aufführungen in den zwanzig Jahren allen, die sie hörten, unvergeßlich bleiben werden, und dessen Interpretation einer jüngeren Generation durch seine Aufführung der .Zauberflöte“, der ersten englischen Schallplattenaufnahme einer Mozart-Oper, überliefert worden ist.

Der zweite ist natürlich John Christie, der Begründer des Operntheaters von Glynde-bourne. Es ist ein Zufall der Geschichte, daß Mozart nicht in Glyndebourne geboren wurde. Aber Glyndebourne ist Tausenden von Engländern heute ein zweites Stratford-upon-Avon geworden.

Der dritte ist Professor Dent. Denn, was immer auch Sie, meine Damen und Herren, hier von Opernaufführungen auf Englisch halten mögen: es bleibt die Tatsache bestehen, daß es wirklich sehr wichtig ist. zu verstehen, was in den Mozart-Opern vorgeht, und für jene, die weder des Italienischen noch des Deutschen mächtig sind, haben die englischen Uebersetzun-gen Professor Dents einen neuen Maßstab der Verständlichkeit, des Witzes und geschmackvollen Klanges gegeben. Zwei Elektriker, die kürzlich bei mir im Hause arbeiteten, verbrachten ihre ganze Zeit mit dem Singen von Fragmenten aus Mozart-Opern. Natürlich kannten diese beiden kein einziges Wort einer anderen Sprache außer Englisch, aber es scheint mir unwahrscheinlich, daß sie die älteren Ueber-setzungen gesungen hätten. — Ich glaube, daß wir es diesen drei Männern zu verdanken haben, wenn wir heute in England mehr mit Mozart-Opern vertraut geworden sind als irgendein anderes Land außer Oesterreich.

Jedes Zeitalter ist sich in erster Linie seiner Fehler, seiner Enttäuschungen und Nöte bewußt. Die Fortschritte werden als selbstverständlich hingenommen Da ist es gut, sich daran zu erinnern, daß, während Tausende von Menschen in England materiell ärmer geworden sind, sie sich durch engere Vertrautheit mit Mozart einen Schatz des Geistes und der Gefühle anzulegen vermochten.

Bevor man das ganze Ausmaß seines Werkes kannte, herrschte eine völlig verkehrte Ansicht von dem Wesen Mozarts. Man hielt ihn für eine Verkörperung des Dixhuitieme — des Graziösen, der Klarheit, gerade noch berührt vielleicht von einer angenehmen Gedanklichkeit. Diese Ansicht wurde bei uns durch kleine, in den Musikläden erhältliche Gipsbüsten bestärkt. Auch ich erwarb eine solche Büste noch als Schuljunge und nahm sie auf die Universität nach Oxford mit. Als jedoch die ersten Schallplatten des Quintetts in g-moll um 1925 herauskamen, wurde ich mir bewußt, daß das nicht von jenem glatten Geschöpf auf meinem Kaminsims geschrieben sein konnte, und ich schenkte die Büste meinem Diener. Heute ist es uns allen klar, daß die Größe Mozarts gerade in der Tatsache liegt, daß er das 18. Jahrhundert überwand.

Der musikalische Stil des 18. Jahrhunderts ist ein so angenehmer und scharmanter Begleiter, von dem man so leicht angesprochen ist, daß ich es gut für möglich halte, wenn irgendein boshafter Mensch einem Publikum von musikalischen Amateuren ein ganzes Konzert mit Werken von Mozarts Zeitgenossen zusammenstellt, das dann von diesem Publikum als das Werk ihres liebsten Komponisten genossen werden' könnte. Der Betrug wäre aber natürlich nicht von langer Dauer. Denn selbst die Nicht-fachleute unter uns würden sofort zwei Mängel feststellen: erstens das Fehlen jener geistigen Disziplin, die jeder Idee den vollsten und knappsten Ausdruck verleiht, und zweitens das Fehlen der Stimme Mozarts.

Es wird wohl klüger sein, nicht zu wiederholen, was diese Stimme sagr. Man erinnert sich des Ausspruchs von Lord Halifax: „Madame, weise Menschen haben eine Religion.“ — „Und die wäre, Mylord?“ — „Weise Menschen verratend nie.“ Selbst wenn ich so indiskret wäre, diesen Ratschlag zu vergessen (und Sie bemerken vielleicht schon, daß ich gerade dabei bin, es zu tun), wie könnte ich eine derartig paradoxe Verbindung von extremer Ferne und extremer Intimität beschreiben? Mir kommt das Bild eines herrlich schönen Morgens, die Luft ist völlig klar und still, jegliche Form in ihren Konturen deutlich, und plötzlich: was war geschehen? Ein Regentropfen? Ein Gewitter? Oder vielleicht nur das Sprühen und der Laut eines Wasserfalles, welche uns die Klarheit der Luft so unnatürlich nah erscheinen läßt? Das ist das Geheimnis Mozarts: daß er, der in der Welt ätherischer Reinheit daheim ist, dennoch zu uns von Leidenschaft spricht und über Gut und Böse. Nicht, wohlgemerkt, über Recht und Unrecht - das ist das Thema Beethovens —, sondern über Gut und Böse.

Und heute, im Jahre 1956, hören wir ihn *n, weil er nicht aufdringlich ist oder doziert oder mit uns argumentiert, sondern weil er unsere Gefühle in eine höhere Ordnung verwandelt, so daß wir. einen Augenblick lang, wie Papa-geno und Pamina, „an die Gottheit anreichen“.

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