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Prag aus Amerika

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Aus Amerika mußte dieser hervorragende Gedanke kommen, dem Laienpublikum eine populäre Übersicht über das Literaturgeschehen der letzten 25 Jahre zu geben, also nicht nach Germanistengebrauch ganze 50 Jahre abzuwarten! Peter Demetz, ein geborener Prager, heute Professor an der Yale-Universität, USA, bereits bekannt durch sein Buch über „Renė Rilkes Prager Jahre” und andere literarhistorische Untersuchungen, stellt dem Publikum, nachdem er eingangs die literarischen Szenen in der Gesellschaft und Literatur der Schweiz, Österreichs, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland beleuchtet hat, acht Lyriker, sechs Dramatiker und acht Erzähler vor.

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Aus Amerika mußte dieser hervorragende Gedanke kommen, dem Laienpublikum eine populäre Übersicht über das Literaturgeschehen der letzten 25 Jahre zu geben, also nicht nach Germanistengebrauch ganze 50 Jahre abzuwarten! Peter Demetz, ein geborener Prager, heute Professor an der Yale-Universität, USA, bereits bekannt durch sein Buch über „Renė Rilkes Prager Jahre” und andere literarhistorische Untersuchungen, stellt dem Publikum, nachdem er eingangs die literarischen Szenen in der Gesellschaft und Literatur der Schweiz, Österreichs, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland beleuchtet hat, acht Lyriker, sechs Dramatiker und acht Erzähler vor.

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„Wer findet in unserem wohlverproviantierten Ästhetikerlexikon Ausdrücke, um das schier himmlische Gefühl wiederzugeben, das den friedlichen Touristen in so einem Mosaikinterieur wie dem Baptisterium der Orthodoxen zu Ravenna befällt?” Um Julius Meier-Graefes Worte zu begreifen, mit denen er in seinem berühmten Werk über die moderne Kunst den überwältigenden Eindruck der frühchristlichen Mosaiken von Ravenna zu beschwören versucht, muß man wohl selbst einmal davor gestanden sein. Photos, und wären sie auch so überaus prächtig, wie die von Erich Lessing aufgenommenen und zu einem Buch mit dem Titel „Ravenna — Steine reden” vereinigten, vermögen immer nur an solche Überwältigung durch den Eindruck des wirklich Geschauten zu erinnern und sie wieder und wieder neu erleben zu lassen. (Herder-Verlag, Freiburg-Basel-Wien, 1970. Mit einer Einführung von Wolfgang Stadler. 77 Seiten.) Doch ist das sehr viel. Die Bilder stammen hauptsächlich aus den drei ältesten Kirchen Ravennas, dem Mausoleum der Galla Placidia, dem Baptisterium der Orthodoxen und der Kirche Theoderlchs des Großen — San Apollinare Nuovo; obiges Bild („Christus, der Sieger”) aus der Erzbischöflichen Kapelle neben der Kathedrale. Warum den Gruppen der einzelnen Bilderfolgen immer wieder der gleiche „Prophet” vorangestellt ist, bleibt unerfindlich.

Helmut Thaler

Wir lernen unter den Lyrikern Nelly Sachs, Johannes Bobrowski, Inge- borg Bachmann, Paul Celan, Helmut Heissenbüttel, Günter Kunert, Hans Magnus Enzensberger und Wilhelm Lehmann kennen, Porträts mit Lebenslauf und Charakteristik. Bei den Dramatikern werden Fritz Hochwälder, Max Frisch, Peter Weiss, Peter Hacks, Rolf Hochhuth und Friedrich Dürrenmatt gezeichnet, deren Dramen in Handlung und Wirkung vorgestellt und die Tendenzen und Probleme des modernen Theaters äußerst wirksam skizziert. Bei den acht Erzählern finden wir die Namen Wolfgang Koeppen, Gerd Gaiser, Alfred Andersch, Heinrich Böll, Martin Walser, Uwe Johnson, Günter Grass und Heimito von Doderer. Es ist erstaunlich, wieviel wissenswertes Material hier im Extrakt vorgeführt wird und man bewundert den Autor wegen seines immensen Lesefleißes — denn ohne den hätte er nie das Buch schreiben können — und seiner Art, Wesentliches nett zu sagen, ohne den Professor herauszustellen. Man fühlt, daß er auch imstande wäre, ein ganz fachmännisches Konvolut in einigen Bänden über diese Materie zu schreiben, doch der Leser, der dieses nie langweilig wirkende Buch atemlos bis zum Ende liest, wird immer gerne zu ihm als Nachschlagewerk zurückfinden. Ja man beneidet die heutige Generation der Abiturienten, daß sie so ein handliches Buch zur Verfügung haben, nach dessen Lektüre sie leichten Herzens dem Deutsch-Examen entgegensehen können, ohne sich selbst durch den ganzen Bücherwald hindurchfressen zu müssen.

Bezüglich des etwas ungewöhnlichen Titels bei einer Literaturübersicht bezieht sich Peter Demetz auf Madame de Stael, die vor 150 Jahren die deutsche Literatur eine „süße Anarchie” genannt hat. Und dieser Titel ist dem Beschauer der heutigen Verhältnisse nach der Lektüre des Buches sehr verständlich, gibt es doch heute mehr als damals anarchische Zustände, wenn wir das Mit- und Gegeneinander der Strömungen in allen deutschsprachi gen Ländern vergleichen. Die Ungleichheit des Establishment in den genannten vier Staaten bedingt die verschiedenen Formen, den Trend, und der Autor begründet die verschiedenen Folgen der einwirkenden Umwelt auf die Schriftsteller der Gegenwart mit der soziologischen Wandlung des Zeitgeistes in den vier Staaten. Es sind 22 Porträts, die in der Erinnerung auch eines flüchtigen Lesers haften bleiben, der dann sich mit einem oder dem anderen Schriftsteller näher bekannt machen wird, weil er durch Demetz auf ihn neugierig gemacht wurde: Und so wird Peter Demetz neue Freunde für die moderne deutsche Literatur nicht nur in Amerika gewonnen haben.

Zum Schluß noch eine etwas persönliche Bemerkung zu einer Zeit, da der letzte große Buchautor der Plejade des Prager Kreises, Johannes Urzidil, gestorben ist. Neben den vier genannten Staatsgebilden wird vom Chronisten vermerkt werden müssen, daß aus der Tschechoslowakei kein Name kommt, weder aus Prag noch aus dem Sudetenland. Zwar reichen bei manchen die Familienfäden der Großeltern, wie zum Beispiel bei Hochwälder, in diesen Raum, doch ist dieser Raum heute mit seinem Widerhall vollkommen in der deutschen Literatur verstummt und Peter Demetz, der selbst aus einer Prager Familie stammt, die intensiv mit dem Deutschen Theater und deutschen Schrifttum in Prag verbunden war, ist es im fernen Amerika beschieden worden, ein Buch über moderne deutsche Literatur in den vier deutschen Staaten Mitteleuropas zu schreiben, das würdig ist, in der Skala der Bestseller an der Spitze zu stehen. Das früher so beredte Prag ist verstummt und spricht nun durch Demetz in dem Buch aus Amerika!

DIE SÜSSE ANARCHIE. Deutsche Literatur seit 1945. Von Peter Demetz. Eine kritische Einführung. Aus dem Amerikanischen von Beate Paulus. Propyläen-Verlag. DM 22.—.

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