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„Entlarvter“ Rilke?

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Das neue Buch von Peter Demetz, „Renė Rilkes Prager Jahre" (Eugen-Diederichs-Verlag, Düsseldorf. 210 Seiten. Preis 11.80 DM), hat in der bisherigen Kritik ein tiefes und erstauntes Echo gefunden. Mit Recht. Geht doch der Verfasser völlig neue Wege in der Deutung des berühmten Dichters. Wege, die von der bisherigen Rilke-Literatur abweichen. „Mit seltenen Ausnahmen", schreibt der Verfasser, „scheint die Rilke-Literatur das magisch-theologische Zeitalter noch nicht überwunden zu haben. Ein ungewöhnlicher Zauber strahlt von Rilkes Persönlichkeit aus; seine Verse überwältigen die Kommentatoren; sie unterliegen ihm, anstatt ihn zu deuten; wie in einem heiligen Tempelbezirk verstummt alle irdische Kritik und die nüchterne Unbefangenheit des Urteils. Kein Zweifel: ein Großteil der bisherigen Rilke-Interpretation, die an Ausmaß die Shakespeare- und Dante-Literatur zu erreichen droht, ist ihrem Thema eher zum Opfer gefallen als es sachlich darzustellen."

Demetz kann von sich sagen, daß er „dem Thema nicht zum Opfer gefallen ist". Er interpretiert Rilke — wie es die moderne Psychologie vorschreibt — von seinen Ursprüngen her. Das heißt im Falle Rilkes einmal als Kind der Stadt Prag. Wer die Hauptstadt Böhmens kennt, ihrem innersten Wesen nach kennt (und der Verfasser kennt sie, er spricht, wie das Literaturverzeichnis beweist, auch tschechisch), für den ist Rilke (das gleiche gilt im Falle Kafka, Werfel, Meyrink) kein Rätsel mehr. Denn Rilke ist der vollendete Prager, der verendete böhmische Mensch: in seiner Kultur, seiner Lethargie, seinen Depressionen, seiner Intelligenz, seiner Zähigkeit, seinem Instinkt, seinem Geprägtsein von zwei Nationen '(Rilke, der geborene Deutsche, bezeichnete sich selbst als slawischen Menschen), seiner einmaligen Beherrschung der deutschen Sprache, die er immer nur in nichtdeutscher Umgebung, wie Paris, Duino, Muzot, zur hohen Vollendung führen konnte. In einer kommenden Neuauflage wären allerdings noch weitere „böhmische" Seiten im Wesen Rilkes aufzuzeigen. So insbesondere seine Neigung zu Rußland und Frankreich, seine Haßliebe zu Oesterreich, seine seltsame mystische Begabung, seine Unentschlossenheit, seine „Geduld für Jahrhunderte".

Aber Rilke ist nicht nur ein Kind seiner Stadt, er ist vor allem das Kind seiner Eltern. Da ist der Vater: ein gescheiterter Offizier, der sich als kleiner Beamter fortbringt, äußerlich in der Maske eines Grandseigneurs, innerlich unsicher und zerbrochen. Da ist die Mutter: brennend von Ehrgeiz, im Grunde des Herzens unreligiös, äußerlich bigott bis zum Ueberdruß, ein Schmock (sie kleidet sich wie eine Erzherzogin in Trauer), erbittert, daß sich ihr Traum, neben ihrem Mann eine Dame von Welt zu werden, nicht erfüllt.

In dieser Atmosphäre wächst der kleine Renė auf. Während der Vater gar keinen Einfluß auf seinen Sohn erlangt, kann ihn diese hysterische

Mutter für sein ganzes Leben entscheidend beeinflussen. Sie kann ihm ihre Tagträume so stark aufzwingen, daß er sich davon niemals mehr befreien kann, sondern sie eines Tages erfüllen wird. Dei Traum seiner Mutter ist, daß er jenes Leben führen kann, welches ihr versagt blieb: ohne Beruf in der Welt zu leben, die sie als die „große' ansieht, also unter Hocharistokraten, auf Schlössern, sein Name in aller Mund.

Die militärische Karriere, die Rilke vielleicht die Erfüllung dieses Wunsches teilweise hätte bringen können, ist ihm versagt, mit sicherem Instinkt erkennt der junge Renė, daß ihm nur noch ein anderer Weg übrigbleibt, um dieses Ziel zu erreichen: als Dichter und Schriftsteller. Der junge Renė glaubt, daß er Talent zu diesem Beruf besitzt und versucht, auf den verschiedensten Wegen dieses Talent einzusetzen, um dem Ziel, das ihin die Mutter aufgezwungen hat, näherzukommen. Bis er eines Tages erkennt, daß er nicht seinem Ehrgeiz, sondern seinem Talent zu dienen habe und er mit Instinkt, mit unendlichem Fleiß, mit Zähigkeit seinen Weg, seinen eigentlichen Weg beginnt.

„Rainer Maria Rilke", schreibt Demetz am Schlüsse seines Buches, „glaubte oft, sein jüngeres Selbst, Renė, in seiner Arbeit und in seinem perönlichen Schicksal verleugnen zu können. Mit Gewalt verbannte er den Gedanken, daß der Geschichte seiner Arbeit das Schicksal Renė voranging, die merkwürdige Geschichte eines jungen Mannes aus der Provinz, der aus engem Talent, einer dürftigen Sprache, einer ehrgeizigen Jugend, gegen die Hemmnisse des Ortes und der Zeit sein Leben nach einem vorgefaßten Existenzentwurf zu einem dichterischen Mythos zu steigern vermochte. Wie Münchhausen sich an seinem eigenen Haar aus dem Sumpf einer gehemmten Jugend und einer armen Sprache emporgezogen zu haben, darin lag Rilkes eigentliche, unendlich rührende Leistung."

Ist nach Ansicht des Referenten das Buch von Demetz hinsichtlich der „böhmischen" Komponente des Dichters noch etwas ergänzungsbedürftig, so auch noch hinsichtlich des Einflusses der Mutter auf Renė. Denn dieser Einfluß wurde noch auf einem Gebiet, das der Verfasser nicht erwähnt, ausschlaggebend, nämlich auf dem religiösen. Diese bigotte, engherzige, hysterische Mutter trieb ihrem Sohn das Christentum gründlich und restlos aus. Sie ist der Hauptgrund seiner Abneigung gegen die christliche Religion. Und Rilkes Worte „Sei Heide, und Heide sei weit" und „Gott macht sich nichts aus den Christen" sind nur aus der Haßliebe zu seine; im wirklichen unchristlichen Mutter zu verstehen.

Neben diesen zwei Wünschen nach Ergänzung bleibt nichts mehr an dem Buche des Verfassers auszusetzen. Rilkes Leben ist endlich von dort aus gedeutet worden, von wo aus es allein zu deuten ist.

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