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Gott als ein schönes Märchen?

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Wiedergelesen: Vor 90 Jahren erschienen Rainer Maria Rilkes „Geschichten vom lieben Gott“.

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Wiedergelesen: Vor 90 Jahren erschienen Rainer Maria Rilkes „Geschichten vom lieben Gott“.

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Rainer Maria Rilke hat über seine „Geschichten vom lieben Gott“ (1904) gesagt, das Buch sei ihm „sehr herzlich lieb“; er habe es „in glücklicher Zeit in sieben aufeinander folgenden Nächten“ niedergeschrieben. Das war zwischen dem 10. und dem 21. November 1899. Diese Geschichten gehören also zum Jugendwerk Rilkes, und man kann sie zur Gänze eigentlich nur verste-hen, wenn man Rilkes übrige Werke mitheranzieht und die Quellenlage berücksichtigt. Rilke hat sich intensiv mit der russischen Geschichte und der russischen Volksliteratur beschäftigt, hat das Land bereist und Quellen studiert. Ergebnis dieser Studien und Erfahrungen sind die „Geschichten vom lieben Gott“.

Rilke hat vor allem alte russische Erzählungen und historische Ereignisse verarbeitet. Seine wichtigste Quelle war Alfred Rambauds Werk „La Russie Epique“ (1876), in dem er französische Übersetzungen alter russischer Erzählungen fand sowie alte russische Balladen und Lieder (sogenannte Bylinen), aber auch Material über Iwan, den Schrecklichen, die Belagerungen der Ukraine und ähnliches. Weiter hat sich Rilke ausgiebig mit der italienischen Renaissance beschäftigt, insbesondere mit Michelangelo, den er verehrte. Die Renaissance galt ihm als Blütezeit in der europäischen Kunstgeschichte, als Epoche, in der der Künstler höchste gesellschaftliche Anerkennung genoß und höchste Relevanz besaß; ein Idealzustand, der Rilkes eigenen Vorstellungen von der Rolle des Künstlers entgegenkam. Auch diese Beschäftigung mit der italienischen Kunst der Renaissance ist in die „Geschichten vom lieben Gott“ eingegangen, besonders deutlich in dem Märchen „Eine Szene aus dem Ghetto von Venedig“. Die Märchen „Wie der Verrat nach Rußland kam“, „Wie der alte Timotei starb“ und „Das Lied von der Gerechtigkeit“ sind in Rußland situiert und verarbeiten alte Erzählungen und Balladen.

Wie Rilkes „Stunden-Buch“, das etwa um die selbe Zeit entstanden ist, sind auch die „Geschichten vom lieben Gott“ ein Werk religiösen Inhalts. Es gehört neben dem „Stundenbuch“ und den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ zu den bekanntesten, am häufigsten aufgelegten und am meisten gelesenen Büchern Rilkes. Als ich es jetzt einmal wieder durchlas, fiel mir so recht erst auf, daß sein Zauber vor allem darin liegt, daß diese Geschichten Kunstmärchen ganz eigenwilliger Prägung darstellen.

KINDER ALS ADRESSATEN

Die Sammlung besteht aus 13 Geschichten, der Rahmen des Zyklus spielt an einem nicht näher genannten Ort, geprägt von seinen bäuerlichen Bewohnern, in der die üblichen nachbarschaftlichen Beziehungen und die Vereinsmeierei gepflegt werden, in der zu den lokalen Größen Lehrer, Funktionäre und der Totengräber gehören. Vom Herrn Pfarrer ist nicht die Rede. Im Mittelpunkt steht ein Ich-Erzähler, über den wir aber so gut wie nichts erfah ren. Er unterhält sich mit seinen Nachbarn und erzählt ihnen Geschichten, wobei er seinen Zuhörern stets aufträgt, sie den Kindern weiterzuerzählen. Die Kinder selber treten im Rahmengeschehen gar nicht auf; und doch sind sie die wichtigsten Adressaten des Ich-Erzählers, dem es stets darauf ankommt, daß die Geschichten die Kinder erreichen, vorzugsweise auf Umwegen, nie aus seinem Munde selbst. Daß die Geschichten weitererzählt werden, ist oberstes Anliegen des Ich-Erzählers, was im übrigen wesenmäßig der Gattung Kunstmärchen entspricht. Im Untertitel hieß die Sammlung ursprünglich „An Große für Kinder erzählt“, womit bereits signalisiert ist, daß die Adressaten der Geschichten Erwachsene sind, die die Märchen an Kinder weitergeben sollen.

Das einleitende „Märchen von den Händen Gottes“ gibt der Ich-Erzähler bei einem Plausch an seine Nachbarin weiter. Es handelt von der Schöpfungsgeschichte und berichtet, daß der liebe Gott, obwohl allmächtig und allwissend, in einem Moment seine schaffenden Hände aus dem Auge gelassen und somit versäumt habe, einen Blick auf die Menschen zu tun. Seither straft er seine Hände mit Verachtung, weil er nicht weiß, wie die Menschen aussehen.

ROMANTISCHE VORSTELLUNG

Das Märchen markiert eine deutliche Distanz zwischen den Menschen und Gott, ja stellt diese Distanz im Erzählen erst her. Gott kann nur durch die Menschen erfahren, wie der Mensch eigentlich ist, das heißt: Gott ist auf die Menschen angewiesen. Wie soll Gott und durch wen soll er von den Menschen erfahren? Von den Kindern, von Malern, Dichtern, Baumeistern - sie verfügen noch über Ahnungen und Zugangsweisen zur höheren Welt. Rilke ist hier beeinflußt von Vorstellungen der Romantiker (die Kunst als Religion und Gebet), wie sie etwa Novalis und Wackenroder entwickelt haben. Bei Rilke jedoch gilt es, Gott gleichsam zu entzaubern, ihn herunterzuholen, zu anonymisieren, in seine Schöpfung einzuverleiben, bis er nicht mehr als Person greifbar ist. Er muß gleichsam im Herzen jedes ein zelnen Menschen, jedes Wesens in der Natur, ja jedes Dings entstehen, bevor er überhaupt existieren kann. So steckt Gott später plötzlich in einem Stein, oder verwandelt sich gar in einen Fingerhut, weil es spielende Kinder so wollen.

Da hängt mit Rilkes religiösen Auffassungen zusammen. Der zentrale Begriff für Rilkes Gottesbild ist die Sehnsucht, eine besondere Qualität des Künstlers. Der Glaube an Gott erscheint Rilke als Gefahr, weil er die Sehnsucht und damit künstlerische Kreativität gefährde. Der oberste Auftrag des Dichters ist es, sich von Gott zu emanzipieren, selber die Rolle des Sehers und Verkünders zu übernehmen, ähnlich wie es der geheimnisvolle Ich-Erzähler der „Geschichten vom lieben Gott“ tut.

In Rilkes Prosastück „Die Letzten“ zum Beispiel heißt es, die Künstler trügen die Menschen empor bis zu Gott, woraufhin der Künstler erwidert: „ist das nicht hoffnungslos? Immer nur bis zu Gott. Nie durch ihn hindurch. Nie über ihn hinaus. Als ob er ein Felsen wäre. Und er ist doch nur ein Garten, wenn man so sagen darf, oder ein Meer oder ein Wald — ein sehr großer“. Im Zeichen der Vorstellung, Gott aufzulösen, seine personale Gestalt zu verwischen, ihn gleichsam organisch in den Menschen und in der Natur aufzulösen, stehen auch die „Geschichten vom lieben Gott“, wo er für die Kinder zuletzt als Fingerhut erscheint. Gott kommt nach dieser Wegzauberurig erst dadurch wieder zustande, daß ihn die Menschen wieder neu erschaffen. Ohne die Menschen geht es nicht für Gott. Gott ist das „Ding der Dinge“, verbirgt sich überall und nirgends und kann erst von den Menschen aus dem Dunkel wieder ans Licht gebracht werden. Jeder einzelne ist somit wichtig für Gott. Gott ist bei Rilke immer der „Kommende“, ein Werdender, jemand der sein wird erst durch die Menschen.

Diese (an Nietzsche geschulte) Umkehrung der christlichen Heilslehre kann man besonders den berühmten Versen ablesen: „Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? / Ich bin dein Krug, (wenn ich zer- scherbe?) / Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?) / Bin dein Ge wand und dein Gewerbe, / mit mir verlierst du deinen Sinn. / Nach mir hast du kein Haus, darin / dich Worte, nah und warm, begrüßen. / Es fällt von deinen müden Füßen / die Samtsandale, die ich bin.“

DER KÜNSTLER ALS SCHÖPFER Hier werden oben und unten vertauscht, die Verhältnisse gleichsam auf den Kopf gestellt. Darin eine Blasphemie zu sehen, hieße verkennen, daß es Rilke nicht um die Abschaffung Gottes geht, sondern um seine Erschaffung, an der die Künstler besonderen Anteil haben. Gott ist im Kunstwerk selber verborgen, künstlerische Betätigung entspricht dem Gebet. Und wenn der Künstler seinen Bau, das Werk, vollendet, kommt dies der Vollendung Gottes gleich. Mit dem Reifen des Künstlers reift auch Gott.

So stehen die „Geschichten vom lieben Gott“ im Zeichen einer märchenhaften Wegzauberung Gottes, einer Entmystifizierung, und versuchen zugleich, an dem künstlerischen Bau mitzuwirken. Gott wird dabei zum Stein, den Michelangelo bearbeitet, zu einem Sänger, der dem unterdrückten russischen Volk hilft, zu einem glitzernden Meer, das die Juden im Ghetto Venedigs tröstet, zu einem Fingerhut, der durch fröhliche Kinderhände und niemals verloren geht. Die Abfolge der Märchen ist so angelegt, daß gleichsam ein Stein auf den anderen gesetzt wird (jedes Mär-chen das vorangegangene in gewisser Weise fortsetzt und ergänzt), in immer weiteren konzentrischen Kreisen, bis der Bau am Ende rund ist, sich der Kreis schließt, Gott gleichsam im Dunkeln verschwunden und doch auf geheimnisvolle Weise (für die der Künstler sorgt) anwesend ist, auch wenn er einer bleibt, der erst seih wird.

Deshalb ist es wichtig, daß diese Geschichten weitererzählt werden. Fast immer haben die Märchen der Sammlung einen offenen oder gar keinen Schluß: Es sind die Kinder und wir Leser, die Rilkes Märchen weitererzählend vollenden. So leisten wir unseren Beitrag für die Zukunft, in der Gott sein wird. Gott ist bei Rilke, im ambivalenten Sinne des Wortes, nichts mehr und nichts weniger als: ein Märchen.

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