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Rainer Maria Rilke und Böhmen

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Vor 70 Jahren, am 4. Dezember 1875, wurde in Prag Rainer Maria Rilke geboren Kleine Adelspalais im müden böhmischen Spätbarock, Wappen und Heiligenbilder über den Portalen, durch die der flüchtige Blick des vorbeihastenden Großstädters das Grün von Gärten wahrnimmt, die, eingespart aus der steinernen Umgebung, völlig unbekümmert ein eigenes Leben führen; eine Kirche im josefinischen Stil, die eher einem Tempel gleicht als einer christlichen Kirche und in der sich der leidende Leib Christi über dem Hochaltar wie eine große Verlegenheit ausnimmt oder wie ein Hindernis, das zwischen Gott und dem Menschen steht; ein Kloster, aus dem die Mönche schon fortgezogen sind; die ganze Gasse still und eher eng, so bietet sich jener Teil Prags dar, in dem Rainer Maria Rilke geboren wurde und seine frühe Kindheit verbrachte. War sie von Einfluß auf das sensible Gemüt des Kindes und hinterließ sie Spuren für das spätere Leben? Oder war dieser böhmische Ursprung nur ein Zufall und wurde aus-. gelöscht durch die Eindrücke der ständigen Wandersdiaft, die Rilke durch die weite Welt trug?

Der genaue Kenner Rilkes wird, wenn er die zahlreiche Literatur über den Dichter durchgeht, auf eine seltsame Tatsache stoßen: auf die Tatsache nämlich, daß das Verhältnis Rilkes zu Böhmen nirgends gewürdigt wird. Freunde und Gelehrte, Bewunderer und Neugierige nahmen Leben und Werk des Dichters unter die Lupe und registrierten und klassifizierten mit genauestem Fleiß alle Beziehungen Rilkes zu den Ländern, in denen er lebte und schuf; zu Frankreich und zu Rußland, zu Italien und zu Spanien, zur Sdiweiz. Was sollten sie aber über Rilke und Böhmen berichten, außer daß er in Prag geboren wurde und einige frühe Gedichte dort schrieb und dann das Land verließ, um nie wiederzukehren? Daß er kurz vor seinem Tod Böhmen noch seine Heimat nannte, diese Bemerkung hätte sie stutzig machen können, aber sie entging ihnen. So harrt das Verhältnis Rilkes zu Böhmen noch immer einer gründlichen Untersuchung.

Denn: Wer Böhmen kennt und wer Rilke kennt, wird bald zu der Einsicht gelangen, daß dieses Land im Leben des Dichters gleichsam zur Person geworden ist und den Urgrund seines Werkes bildet und daß von dieser Plattform aus vieles im Dasein und Schaffen des Dichters verständlich wird.

Böhmisch ist die Begeisterung Rilkes für Rußland, das er nicht aufhört als seine Urheimat zu preisen; böhmisch ist seine Liebe zu Westeuropa und dessen HauptStadt Paris, das ihm „unentbehrlich“ ist und dem er „das Beste verdankt, was er... geleistet hat“; böhmisch ist seine Abneigung gegen Deutschland, in dem er „nie gerne ist“ und indem „unsereiner sich erst recht in der Fremde fühlt“; böhmisch sein Abscheu gegen das aite Österreich, von dem er „kaum sagen kann, wie alles ihm zuwider dort ist“; böhmisch ist wieder seine geheime und starke Liebe zu eben diesem Österreich, die sich erst zeigt und die er spürt) als dieses Österreich nicht mehr besteht. Plötzlich spricht er nun von „unserm“ armen Österreich, „merkt die Heimatlosigkeit des Österreichers“, von der er sich ebenfalls betroffen fühlt und die „wie. ein großes Weh vor ihm steht“. B ö h-misch ist seine Ablehnung des Barock, wie sie sich in der Verwerfung seines „Cornet Rilke“ äußert, dieser ganz barocken Dichtung, die er eine „Improvisation“ nennt und die er „unausstehlich'' findet, obwohl dieses Werk zu den schönsten seiner Schöpfungen gehört und mehr gelesen wurde als das „Stundenbuch“ und die „Duineser Elegien“ zusammengenommen. Aber auch hier ist er ein getreues Abbild Böhmens, daß die Epoche seines Barpck als eine der dunkelsten Punkte seiner Geschichte bezeichnet, die ihm aufgezwungen wurde und die verleugnet werden muß; obwohl Böhmen durch die Kunst und Kultur des Barock zu einem Juwel des Abendlandes wurde. Böhmisch ist sein seltsames Hervorheben einer geschichtlichen Tradition, wenn sie auch auf vagen Fundamenten ruht und die sich bei ihm darin zeigt, daß er auf Grund irgendwelcher Gerüchte behauptet, vom Kärntner Uradel abzustammen und ein Wappen gebraucht, das im Ständehaus zu Klagenfurt abgebildet ist und angeblich seiner Familie zugehört. Was alles quellenmäßig nicht überprüft werden kann, worauf er aber weiter fest beharrt und worin sich nur die eine geheime — böhmische — Sehnsucht offenbart, ' Mitspieler am großen Theater der Welt zu sein. Böhmisch ist die Form, in der er seinen Beitrag an die Geschichte leistet und der in „alledem nur Leiden ist. Das Mit-Leiden, Voraus-Leiden und Nach-Leiden“. Böhmisch die Lethargie, die ihn beherrscht, aber gleichzeitig befähigt, Erleider der Geschichte zu sein. Wohl empfindet er sie und klagt, „ein Ausbund an Unentschlossenheit zu sein“, aber gleichzeitig ist er glücklich und stark in dem Bewußtsein, „Geduld für Jahrhunderte“ zu haben. Und böhmisch ist schließlich vieles in seinem Verhältnis zum Christentum, von dem er sich „immer leidenschaftlicher entfernt“, trotz der vielen christlichen Worte in den „Geschichten vom lieben Gott“, im „Stundenbuch“, im „Marienleben“ und in den „Elegien“, genau so wie seine Heimat sich immer mehr vom Christentum entfernte, trotz der vielen Kirchen, Klöster und der Kapellen. Im Gegenteil, diese Gotteshäuser seiner Heimat — und man sieht deutlich, wie er sich an die Kirchen Prags erinnert, an St. Niklas auf der Kleinseite, an St. Thomas, Maria Viktoria, St. Georg und Strahov, St. Ignatius und Ägid, St. Kajetan und Allerheiligen , —* lassen ihn voll Verachtung die Worte sprechen von den „Kirchen, welche Gott umklammern wie Flüchtlinge und ihn dann bejammern wie ein gefangenes und wundes Tier“. Es spricht eine Tragödie, die^erschau-ern macht, aus' diesen Werken. Ist es eine Tragödie Böhmens?

Auf dem kleinen Bergfriedhof von Raron im Kanton Wallis, angelehnt an die Kirchhofmauer, befindet sich das Grab des größten Dichters, den Böhmen der Welt schenkte und der, fast unbekannt in seiner Heimat, einer der vollendetsten Künder ihres Wesens ist.

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