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Der Abglanz Böhmen

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Im goldenen Gewand thront Kaiser Karl IV. unter dem Baldachin am Giehel der Nürnberger Frauenkirche. Schlag 12 Uhr mittags setzt sich der Mechanismus der Kunstuhr in Bewegung, im Kreis gleiten die sieben Kurfürsten des Reiches am Herrscher vorbei, dreimal, in marionetterthafter Huldigung. Das „Männleinlaufen“ nennen die Einheimischen seit alters-her dieses symbolträchtige gotische Divertimento, vielleicht auch deshalb, weil die Kurfürsten in Purpur und Hermelin deutlich kleiner sind als die Majestät. Das Maß als Ausdruck des hierarchischen Abstandes, ähnlich wie auf den mittelalterlichen Gemälden die Stifterfiguren fast en miniature vor den großen biblischen Gestalten knien. Ein goldener Abglanz des ewigen, abendländischen Prag liegt über der Szenerie dieses Platzes, hier in dieser Stadt, die einst, unter Karl IV., das Zentrum „Neuböhmens“ war.

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Im goldenen Gewand thront Kaiser Karl IV. unter dem Baldachin am Giehel der Nürnberger Frauenkirche. Schlag 12 Uhr mittags setzt sich der Mechanismus der Kunstuhr in Bewegung, im Kreis gleiten die sieben Kurfürsten des Reiches am Herrscher vorbei, dreimal, in marionetterthafter Huldigung. Das „Männleinlaufen“ nennen die Einheimischen seit alters-her dieses symbolträchtige gotische Divertimento, vielleicht auch deshalb, weil die Kurfürsten in Purpur und Hermelin deutlich kleiner sind als die Majestät. Das Maß als Ausdruck des hierarchischen Abstandes, ähnlich wie auf den mittelalterlichen Gemälden die Stifterfiguren fast en miniature vor den großen biblischen Gestalten knien. Ein goldener Abglanz des ewigen, abendländischen Prag liegt über der Szenerie dieses Platzes, hier in dieser Stadt, die einst, unter Karl IV., das Zentrum „Neuböhmens“ war.

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Karl IV. als europäische Erscheinung, als prägende Kraft einer Schicksalslandschaft, war gleichsam der imaginäre Regent des XX. Sudetendeutschen Tages, der zu Pfingsten in Nürnberg abgebalten wurde, mit Feierstunden und internen Round-table-Diskussionen, mit kulturellen Würdigungen, Fahnen, Trachten und Fackeln, mit Volksbumsabenden und gesamtpolitischen Standortbe-stimmungen, kurzum: in alten und neuen Formen, als Familienfest der Stämme und als Meeting von Europäern.

Die Landkarte der Bundesrepublik weist in diesem Frühsommer wieder mehrere markante Punkte der alljährlichen Heimatvertriebenen-Tage: Essen (Ostpreußen), Dinkelsbühl (Siebenbürger Sachsen), Hannover (Schlesier) und eben Nürnberg. Nach der statistischen Heerschau der Sudetendeutschen Landsmannschaft bevölkerten 400.000 Tagungsteilnehmer die mattroten Sandsteinveduten zwischen den Lebkuchenwahrzeichen der riesigen runden Befestigungstürme und der Silhouette der Burg. Das sind um 100.000 mehr als im vorigen Jahr dem Sammelruf nach Stuttgart folgten. Für kurze Frist wurden die Viertel um die Pegnitz — wo auf einer der Brük-ken barocke Denksteine mit dem Doppeladler an Leopold I. und Josef I. erinnern — zum Korso von Brünn, Marienbad oder Reichenberg. Als Augen- und Ohrenzeuge konnte man im Querschnitt die Schichtung der Generationen freilegen: von den Senioren, die sich noch immer als Altösterreicher fühlen, auch wenn sie schon längst den bundesdeutschen Paß in der Tasche haben, über die massive Kerngruppe der mittleren Jahrgänge bis zu der auf einer Lagerwiese zeltenden Sudetendeutschen Jugend (Begrüßungslied: „Weißt du, warum du mit uns gehst?“), die eine akustische Musterkarte sämtlicher deutscher Dialekte und Klangfärbungen bot und natürlich nur noch eine rein gefühlsmäßige retrospektive Bindung aus zweiter Hand an die Väterheimat hat. Ja peripher sogar Mini-Egerländer, die sich, unbekümmert um Feier, Paniere und Ansprachen, auf den Boden setzten und Eis aus dem Pappbecher löffelten. „Für gerechten Frieden“, lautete die Devise. Beim Festakt in der Meistersingerhalle hatte man den plakativen Lettern auf dem Podium noch ein markantes „Unbeirrt“ vorangesetzt. Die prinzipiellen Erörterungen konzentrierten sich auf drei Aspekte, drei zentrale Ereignisse der gesamteuropäisch unbewältigten Vergangenheit: das Geschehen des Jahres 1919, als der sudetendeutschen Bevölkerung der neugegründeten tschechoslowakischen Republik das Selbstbestimmungsrecht verweigert wurde, das Münchner Abkommen von 1939 und der 21. August 1968. Dazu der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft CDU-Bundestagsabgeordneter Dr. Walter Becher an den Nationalausschuß der Exiltschecheni, die sich bereits bald nach dem zweiten Weltkrieg eindeutig für das Heimatrecht der Vertriebenen aussprachen: „Wer hinein-lauscht in den jüngsten Gang der böhmisch-mährischen Geschichte, der weiß, wie recht Sie hatten, als Sie damals mit Ihren sudetendeutschen Partnern feststellten, die demokratische Ordnung der Verhältnisse im böhmisch-mährischen Baum sei ein Teil des Kampfes für ein einheitliches Europa, als Sie feststellten, ein einheitliches Europa könne man nach Ihrer Überzeugung mir dadurch erreichen, daß sich seine Völker ohne Zwang in der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechtes zusammenfinden.“

Der Tenor, das Richtmaß der immer wieder als „Revanchisten“ angeprangerten Veranstalter: Verständigung, Gewaltlosigkeit, Versöhnung, Partnerschaft. Absage an ein „Europa der Schrebergartengrenzen“ (Fritz Pirkl, bayerischer Arbeits- und Sozialminister), strikte Distanzierung von der NPD, die im Hinblick auf die kommenden Bundestagswahlen Propagandastoßtrupps nach Nürnberg ins politische Manöver schickte. An taktisch günstigen Punkten der Stadt verteilten sie eine Sonderausgabe der ,J)N“ („Deutsche Nachrichten“), rund 100.000 Exemplare, frisch aus der Rotationsmaschine, mit der Schlagzeile „Wir verzichten nicht!“, dem militanten Untertitel „Kampf den Verzichtlern — Jetzt wird Widerstand geleistet“ und rhetorischen Bidenhänderhieben gegen die Lager aller anderen Schattierungen, namentlich gegen Willy Brandt. Da und dort wehte der Maiwind solch bedrucktes Papier übers Straßenpflaster, man fand es achtlos weggelegt auf den Sitzbänken der Bräu-stübeln und unter dem Kehricht in den Winkeln der Unterführung beim Hauptbahnhof.

Als die „fürnemste und bass geledigste stadt des reiches“ hat Karl IV. Nürnberg bezeichnet. Ein Meister aus dem Kreis des Veitsdom-Erbauers Peter Parier schuf die Frauenkirche, auf deren Altan der Kaiser bei der prunkvollen Taufe seines oben auf der Burg geborenen Sohnes Wenzel dem Volk die Reichskleinodien zeigte, die er aus Prag nach Neuböhmen hatte bringen lassen. Nürnberg war demnach die historisch beziehungsvollste Stätte, an welcher der diesjährige Karlspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft verliehen werden konnte, eine Auszeichnung für hervorragendes Wirken im Dienst des Europagedankens. Heuer empfing die große goldene Denkmünze am rotschwarzen Band der langjährige Protektor der Heimatvertriebenen aus dem böhmisch-mährischen Raum: Bayerns Ministerpräsident Dr. Alfons Goppel, der blauweiße Landesherr von jovialem Vatertyp humanistischen Gepräges. (Sein positiv gemeinter Spitzname ist symptomatisch für die Tiefenpsychologie bajuwarischen Wesens: „König Alfons I.“) In seiner Dankrede zitierte er Goethes Ausspruch „Das Böhmen ist ein eigenes Land. Ich bin dort immer gern gewesen,“ und betonte: „Mit der geschichtlichen Leistung Karls IV. wurde uns ein großes Vermächtnis überantwortet, dem wir uns bei der Bereinigung der offenen Fragen in Europa und der gesicherten Neuordnung einer zweigeteilten Welt stets verpflichtet fühlen müssen.“ Und grundsätzlich: „Wenn wir unter Politik im allgemeinen das Mittel zur Herbeiführung der besten Daseinsbedingungen für den freien und gemeinschaftsgebundenen Menschen in Staat und Gesellschaft verstehen wollen, dann ist der Friede heute mehr denn je das Grundanliegen der Politik schlechthin. Nach Thomas von Aquin ist jedoch der Friede keinesfalls ein paradiesischer Zustand. Er muß in unserer irdischen Seinsverhaftung stets von neuem errungen werden. ,Pax' kommt von .pactum', von Ubereinkunft. Das kann nur auf der Grundlage des Rechts geschehen.“

Ihre besondere Note erhielt die Kundgebung auf weitem Platz zwischen der Frauenkirche und dem filigranen Steingeschmeide des „Schönen Brunnens“, zwischen Kaiser Karl und Coca-Cola, durch die Anwesenheit zweier amerikanischer Kongreßabgeordneter, welche die Grüße Präsident Nixons überbrachten. Ein rhetorischer Gag des Landsmannschaftswortführers Walter Becher verfehlte nicht seine Wirkung auf die Zuhörer: „Wir haben keinen Photokaufmann, der uns eigene oder Infiltrationsgelder aus Pankow übermittelt!“ Das war direkte Zielan-sprache über die Tausende von Köpfen hinweg, das saß: an der nächsten Straßenecke befindet sich nämlich, weithin sichtbar, einer der Läden des politisch so „vielseitigen“ Kamera-Großverschleißers Porst... Manches an antiquierter Folie gilt es noch abzustreifen, um den Vorwurf eines ins Gestrige orientierten Rechtsdralls zu entkräften: die Turnerherrlichkeit ist aufs Altenteil gesetzt, auch die „Grauhemden“ könnte man in die unterste Schublade legen. Äußerlichkeiten, vielleicht. Um so eher kann man sich von ihnen trennen. Etwa im Sinn jenes Gedankens von Ortega y Gasset, der auf der Tagung programmatisch zitiert wurde: „Für Europa ist keine Hoffnung, wenn sein Schicksal nicht in die Hände wahrhaft zeitgemäßer* Menschen gelegt wird, die den Herzschlag der gesamten historischen Vergangenheit spüren, die gegenwärtige Höhe des Lebens kennen und jede archaische und primitive Gebärde verabscheuen.''

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