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Der Augenzeuge

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Mit dem Ruf „Kulturbarbaren“ wollten vergangene Woche einige hundert abgewiesene Besucher den Polizeikordon durchbrechen, der den gefährlich überfüllten Redoutensaal schützen mußte, wo Max Brod einen von der österreichischen Gesellschaft für Literatur veranstalteten Vortrag über das Thema „Das Prag der Jahrhundertwende und Franz Kafka“ hielt. Wie schon in westdeutschen Städten, füllten auch in Wien vor allem jugendliche Zuhörer den Saal, die weniger den Religionsphilosophen, Kulturkritiker, Musiker und Romanschriftsteller Brod sehen und hören wollten als vielmehr den Entdecker, Förderer und Nachlaßverwalter Franz Kafkas. Man hat den heute Achtzigjährigen ein „Genie der Freundschaft“ genannt, das der Welt nicht nur Kafka geschenkt, sondern auch das Werk des bedeutenden tschechischen Musikers Leos Janaček erschlossen hat.

So galt denn die im Zeitalter ganz anderer, weit irdischerer Sensationen erstaunliche und fast schon rabiat zu nennende Anteilnahme eines so zahlreichen Publikums dem Augenzeugen Brod, von dem man womöglich Authentisches über die große, irritierende Existenz Kafkas vernehmen wollte, auch wenn man weiß, daß Max Brod seinen genialen Freund zu unproblematisch sieht und hinter Brods Satz: „So (wie Spinoza) hat auch Kafka alles auf Gott bezogen“ einige Fragezeichen zu setzen sind.

Aber wenn die Älteren unter den Zuhörern und Autogrammjäger vor allem den Autor der Selbstbiographie „Streitbares Leben“, den Prager Max Brod, in dessen unverfälschtem Idiom noch so viel von der Atmosphäre dieser einzigartigen Stadt von einst auflebt und ausstrahlt, feiern wollten, so drängte es die Jungen eher nach so viel Sekundärquellen zum Urquell der Weltliteraturgeschichte. Und das gewiß nicht aus Snobismus, sondern aus wahrem Interesse — was sich bei den Vielgescholtenen wieder einmal zu vermerken lohnt.

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