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Prager Sternenhimmel

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MUSIK- UND THEATERERLEBNISSE DER ZWANZIGER JAHRE. Von Max Brod. Paul- Zsolnay-Verlag, Wien-Hamburg. 258 Seiten. 8 99.—.

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MUSIK- UND THEATERERLEBNISSE DER ZWANZIGER JAHRE. Von Max Brod. Paul- Zsolnay-Verlag, Wien-Hamburg. 258 Seiten. 8 99.—.

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Nachdem Max Brod vor einigen Jahren im Kindler-Verlag unter dem Titel „Streitbares Leben“ seine umfangreiche Autobiographie erscheinen ließ, in der er vor allem über seinen Prager Freundeskreis und viele menschliche Begegnungen mit Dichtern, Literaten und Musikern berichtet, legt jetzit der Zsolnay- Verlag Brods gesammelte Kritiken vor, deren größter Teil während einer zweijährigen Rezensenteintätigkeit in Prag entstanden ist. — An ein Wort Goethes ainknüpfend, sagt Max Brod, er habe mit Tadeln nicht allzu viel Zeit verloren. „Nicht-Bemerken ist der beste Tadel. In meinem Herzen blieb Begeisterung, blieb der Sternenhimmel.“

Die Fixsterne an diesem Himmel sind bekannt, und sie strahlen heute noch ebenso stark, vielleicht noch heller als vor einem Menschenalter. Der eine heißt Kafka, der andere Janäcek. Dem Genius und Werk des größten mährischen Komponisten sind, nach einem einleitenden Kapitel, die ersten sechs Essays gewidmet. Es sind Informationen aus erster Hand, Referate über Ur- und Erstaufführungen der bedeutendsten Werke Janäceks sowie Werkstattberichte. Denn Brod war nicht nur einer der ersten Bewunderer Leos Janäceks, sondern er hat mehrere seiner Opern auch ins Deutsche übersetzt und ihnen damit den Weg auf dlie europäischen Bühnen gebahnt. Hierdurch und als Bewahrer des Nachlasses von Franz Kafka hat sich Brod einen Platz in der europäischen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts gesichert, den ihm auch kritische Stimmen, wie sie während der letzten Jahre laut (zu laut, wie wir meinen) geworden sind, nicht werden streitig machen können.

Neben Janäcek, gewissermaßen als dessen Vorläufer, stellt Brod — mit gutem Recht — Modest Mussorg- sky, dessen Bedeutung Brod ebenfalls als einer der ersten voll erkannte. Auch was er über einige frühe Werke von Schönberg, Schreker und Richard Strauss zu sagen hat (dessen Namen in der vorliegenden Auswahl von Rezensionen leider konsequent falsch gedruckt ist, nämlich mit ß), hat nicht nur Hand und Fuß, sondern auch heute noch Gültigkeit. Natürlich fehlen in dem Kapitel „Deutsche und tschechische Musik“ auch Smetana, Josef Suk und Vitezslav Noväk nicht.

Unter den „Bühnensternen“ Ander wir Shakespeare und die deutscher Klassiker, aber auch Berichte über

Marlowes „Eduard II.“, Gogols „Revisor“, mehrere Stücke Gerhart Hauptmanns und eine Reihe inzwischen verschollener tschechischer Bühnenautoren, wie Frana Šramek, Alois Jirašek und Jarosiav Hilbert. Neben Einzelporträts (Pallenlberg, Romanowski, Fritzi Massary) sind zwei Gastspielberichte von besonderem Interesse: der über das Moskauer Künstlertheater und über ein Gastspiel Eisenbachs in dem jüdischen Volksstück „Doktor Stieglitz“ von Friedmann und Nerz, das im Prager Leopoldstädter Jargon gegeben wurde, wodurch die Charaktere und das ganze Spiel „in Ironie ertrinken“, wie der Kritiker sich ausdrückt.

Damit sind wir an einem schwachen Punkt angelangt, an einer Achillesferse nicht nur dieser Essaysammlung, sondern überhaupt des Brodschen Werkes, das ist die Sprache. „Ich hatte den Ehrgeiz, eine Libretto-Prosa zu schreiben... ohne in eine Lyrik zu versumpfen, die vom Anfang bis zum Ende ein einziges Flickwort ist.“ — „An manchen Stellen (der Bearbeitung) hätte ich immerhin eine schonendere,

idyllischere Hand gewünscht.“ — „Die neue Oper ist mit Jünglingskraft wie in einem einzigen Zug hingerast.“ — „Die Paradoxie des Nachruhmes läßt mich oft vergebens nachgrübeln.“

Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, besonders wenn man noch die Autobiographie Brods heranzieht. Und auch der Rezensent dieser Rezensionen gerät ins Grübeln. Wie mag es zu einem solchen Stil kommen bei einem Mann, dessen künstlerisches Urteil als untrüglich gelten kann und der viele Jahre lang den reinsten Stilisten und schmucklosesten Prosaisten der deutschen Sprache zum Freund hatte? In dubio pro reo. Das apodiktisch-harte Wort „Le style c’est l’homme“ scheint uns auf Brod nicht anwendbar. Er ist als Mensch und Künstler von höherem Rang als seine Sprache.

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