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Der Mann ohne Eigenschaften

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Im Jahre 1936 erschien in einem Schweizer Verlag ein Buch mit dem merkwürdigen Titel „Nachlaß zu Lebzeiten“. Der Herausgeber seiner eigenen posthumen Schriften, Robert Musil, war damals 56 Jahre alt, und es bleibt offen, ob Selbstironie und Verbitterung ihn diesen Titel wählen ließen oder eine grundsätzliche Abneigung gegen richtige „Nachlässe“, deren Veröffentlichung häufig von Geschäftigkeit und Geschäftsgeist unter dem .Vorwand einer — freilich übel angebrachten — Ehrfurcht veranlaßt wird. Nicht umsonst habe das Wort „Nachlaß“ einen verdächtigen Doppelgänger in der Bedeutung, etwas billiger zu geben. Auch der Nachlaß des Künstlers enthält das Unfertige und das Ungeratene, das Nochnicht- und das Nicht-Gebilligte. Außerdem haftet ihm die peinliche Berührung von Gemächern an, die nach dem Ableben des Besitzers der öffentlichen Besichtigung freigegeben werden.

Es ist eine Ironie des Schicksals, daß gerade Musil sein Werk als ein fragmentarisches zurückgelassen hat, das nach seinem Tod durch einen umfangreichen Nachlaß ergänzt werde'n mußte, der nun, soweit er das Hauptwerk betrifft — zum ersten Mal vollständig —, vorgelegt wird.

Der erste Band der gewaltigen Prosadichtung „Der Mann ohne Eigenschaften“ erschien 1930. Die Beschäftigung mit dem Stoff reicht aber bis in die Zeit von Musils ersten Büchern („Die Verwirrungen des Zöglings Törless“, 1906, und die Erzählungen von 1911) zurück. Er umfaßte die ersten beiden Teile des ersten Buches: „Eine Art Einleitung“ und „Seinesgleichen geschieht.“ 1933 erschien als zweiter Band der dritte Teil, der aber mitten in der Handlung abbrach. Ein dritter Band, der die Teile „Ins Tausendjährige Reich oder die Verbrecher“ und „Eine Art Schluß“ — korrespondierend mit dem ersten Teil des ersten Buches — enthalten sollte, lag 1937 bereits in Fahnen vor, wurde aber vom Autor zurückgezogen. Seither beschäftigte ihn. dieses Werk ununterbrochen bis zum Tod, und als die Gattin des Dichters 1943 einen neuen, 460 Seiten umfassenden Band erscheinen ließ, mußte sie ihn als unvollendet und als „Torso eines Torso“ bezeichnen. Er trägt an Stelle des Verlagsimpressum auf dem Titelblatt den Vermerk „Lausanne, Impri-merie Centrale“. Kein Verleger hatte sich gefunden, und nur durch eine Subskription war die Herausgabe ermöglicht.

Hinter dieser Editionsgeschichte steht nicht nur das zähe Ringen eines Schriftstellers mit einem sich immer mehr ausweitenden Stoff, sondern auch eine Lebenstragödie. Der Sohn des aus Graz stammenden und an der Brünner Technischen Hochschule tätigen Professors und Hofrates Alfred Edler von Musil wurde 1880 in Klagenfurt geboren. Der Sproß einer altösterreichischen Beamten-, Gelehrten-, Ingenieurs- und Offiziersfamilie (sein Großvater mütterlicherseits war einer der vier Erbauer und spätere Direktor der ersten Kontinentalen Eisenbahn Linz-Budweis) wurde zum Offizier bestimmt. Aber er verläßt die Militärschule, studiert Maschinenbau und wird Assistent an der Technischen Hochschule in Stuttgart. Unbefriedigt wendet er sich dem Studium der Philosophie, insbesondere der Logik und der experimentellen Psychologie, zu und beendet sein Studium mit einer Dissertation über Ernst Mach. 190S erscheint sein erstes Buch, und da es Erfolg hat, beschließt Musil, als freier Schriftsteller zu leben. 1914 bis 1918 kämpft er an der italienischen Front und kehrt aus dem Krieg als Landsturmhauptmann mit hohen militärischen Auszeichnungen zurück. 1918 bis 1920 ist er im Staatsamt des Aeußeren tätig, 1920 bis 1922 als Fachbeirat im Bundesministerium für Heereswesen. Durch die Inflation verliert er sein gesamtes Vermögen und lebt bis 1933 in Berlin als Theaterkritiker. Freiwillig verläßt er nach der „Machtübernahme“ Berlin und lebt bis 1938 in Wien. Ueber Rom und Zürich erreicht er 1939 die letzte Station seines Lebens, Genf, wo er am 15. April 1942 einem Herzschlag erliegt. Noch am Tage seines Todes hatte er an dem Kapitel „Atemzüge eines Sommertages“ geschrieben und ins letzte seiner vierzig „Blauen Hefte“ die ersten beiden Vormittagszigarren — 9.20 Uhr und 11 Uhr — eingetragen. Auf den Genfer Friedhof von Saint-G:orges begleiteten ihn nur acht Freunde, und der Pfarrer Robert Lejeune forderte nach seinem Tode als erster nachdrücklich zur Wiederentdeckung und Rehabilitierung seines Werkes auf.

Denn Robert Musil war, als er starb, ein fast Vergessener. Die Zeit war seinem Werk nicht günstig. Unmittelbar nach dem Erscheinen des zweiten Bandes begann ein Boykott seiner Schriften/ und auch kein Verleger außerhalb Deutschlands wollte die Neuausgabe und Fortsetzung eines so anspruchsvollen Werkes riskieren. Die Resonanz zwischen dem zv/eiten und dem dritten Band war zu schwach, die Pause zu lang. Aber immer entschiedener riefen seit 1943 einzelne Stimmen nach einer Gesamtausgabe und bezeugten den Rang dieses Dichters. Thomas Mann schrieb schon 1939: „Es gibt keinen anderen lebenden deutschen Schriftsteller, dessen Nachruhm mir so gewiß ist.“ Und die kritischen und zurückhaltenden „Times“ nannten Robert Musil den bedeutendsten deutschschreibenden Romancier dieser Jahrhunderthälfte, der zugleich freilich auch einer der unbekanntesten Schriftsteller dieses Zeitalters sei. Zwar war Musils Rang immer unbestritten, aber nur wenige kannten ihn. „Mein wunderlicher Ruf!“ schrieb Musil einmal: „Er ist stark, aber nicht laut. Ich bin oft gezwungen worden, über ihn nachzudenken. Er ist das paradoxeste Beispiel von Dasein und Nicht-dasein einer Erscheinung. Es ist nicht der große Ruf, den Schriftsteller genießen, in denen sich der Durchschnitt (wenn auch verfeinert) spiegelt, es ist nicht der Spezialistcn-ruf der literarischen Konventikelgröße. Ich wage von meinem Ruf (nicht von mir) zu behaupten, daß er der eines großen Dichters ist, der kleine Auflagen hat.. .“)

Aber auf die Auflagen, auf den Erfolg war Musil angewiesen. Wir erfahren es erst jetzt durch zwei in dem Nachlaßband veröffentlichte Dokumente, die deshalb so ergreifend sind, weil ein so stolzer Mensch unter dem Titel „Ich kann nicht weiter“ und „Vermächtnis“ seine materielle Not bekennt. Während man glaubte, daß er ein Mann sei, der von Zeit zu Zeit ohne Rücksicht auf Erfolg oder Mißerfolg zu seinem Vergnügen ab und zu ein Buch schreibe, war Musil, schon seit er den „Mann ohne Eigenschaften“ zu schreiben anfing, sehr arm und durch seine Natur völlig ungeeignet, schnell zu arbeiten und Gefälliges zu produzieren: „Ich habe alles, was es mir gestattete, mich der deutschen Nation als Dichter aufzudrängen, in der.Inflation verloren, mein Leben hängt an einem Faden, der jeden Tag abreißen kann.“ Aber die Nation wollte, wie so oft, von einem ihrer großen Schriftsteller nicht viel wissen. Kein? von den fünf Landeshauptstädten, zu denen die Familie Musil direkte Beziehungen hat, beanspruchte den Dichter als den ihren. Aber auch in die deutsche Dichterakademie wurde er nicht aufgenommen. Musils zurückhaltende Art war neben der Schwierigkeit seines Werkes, das auch vom Leser das philosophisch-technische Denktraining fordert, dem sich der Autor unterworfen hat, wenig geeignet, ihn populär zu machen. Man kann auch gefällig erzählen, schreibt Musil einmal: „Jeder Begabte kann die Tradition fortsetzen. Und so habe ich denn lieber das Ungenießbare versucht. Einer muß einmal Knoten in diesen endlosen Faden machen .. . Wenn ich bedenke, welche Erfolge ich mit angesehen habe: Von Dahn und Sudermann bis George und Stefan Zweig! Und da erklären sie es für Snobismus und Dekadenz, wenn man das Publikum verschmäht! Erklär dir, wie es wirklich ist.“ Ferner das für einen Dichter merkwürdige Bekenntnis: „Ich habe ein sehr geringes Mitteilungsbedürfnis“, und „Ich bin sehr schweigsam und plötzlich kann ich übersprudeln“, und: „Ich bin mit derselben Gleichgültigkeit freundlich wie unfreundlich. Ich bin es nur peripher“ Hierzu kommt ein anderer Zug: das Fehlen der Neugier, des Dranges, kennen zu lernen: „Ich habe mich nie in meiner geistigen Mitwelt umgesehen, sondern immer den Kopf in mich selbst gesteckt.“ In einem seiner Aphorismen kennzeichnet Musil seine Phantasie, im Unterschied zur „geschäftigen“ als „die Phantasie des stillen Kindes, durchkreuzt von einer gewissen Anlage zum Geschichten ausdenken.“ Mit Energie vermag er nur das zu betreiben, was er sich selbst aussucht. Für sein „Abgangszeugnis“ aus der deutschen Literatur hat sich Musil die folgende Formel zurechtgelegt: „Betragen ungewöhnlich; Begabung zart, wenn auch zu Ausschreitungen neigend; hat nach überschätztem Anfang, mäßige Beachtung in einem Kreis von Liebhabern des Besonderlichen gefunden.“

Dieser Anlage, und diesem Temperament entsprach auch Musils besondere Arbeitsweise, von der das Manuskript zum „Mann ohne Eigenschaften“ Zeugnis ablegt. Musil ließ sich Zeit für sein großes Werk, das nur eine große Leidenschaft kennt, die auf dem Gebiet der schönen Literatur heutzutage eine Seltenheit ist- die nach Richtigkeit und Genauigkeit. Auch glaubte er, noch ein langes Leben vor sich zu haben, und Martha Musil schrieb an den Freund Franz Theodor Csokor: „Sie wissen ja, wie er arbeitete, er übereilt nichts und hätte irgendwann den Roman abgeschlossen. Manche Kapitel existieren in mehr als zwanzig Fassungen.“ Und was er auf diese Weise abgeschlossen hatte, gab er nur widerstrebend aus der Hand. Die Arbeit an dem Roman begleitete er mit Monologen, Selbstinterpretationen und Werkkommentaren, „Ausdruck und Beweis einer unablässigen, unerbittlichen Selbstkontrolle“, wie der verdienstvolle Herausgeber in seinem Nachwort sagt. Und was Musil sich einmal zu einer Neuauflage seiner Novellen notiert hat, gilt auch für den letzten Teil seines Nachlasses: „Der Fehler dieses Buches ist, ein Buch zu sein, daß es einen Einband hat, Rücken, Paginierung. Man sollte zwischen zwei Glasplatten ein paar Seiten davon ausbreiten und sie von Zeit zu Zeit wechseln. Dann würde man sehen, was es ist.., Man kennt nur das kausale Erzählen, die 73 Ammen- und Schauergeschichten, das Gepränge. Als Drittes höchstens noch in Prosa verirrte Lyrik. Nichts davon ist dieses Buch.“ Aber selten in der Literatur reflektiert, nach den Worten des Herausgebers, ein einzelnes Werk die Gestalt eines Dichters derart konzentriert, ja ausschließlich, wie dieser Roman. Der „Mann ohne Eigenschaften“ und das persönliche Bild. Musils sind ein unteilbares Ganzes geworden-

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