Der Vater ein anderer

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Hat Franz Kafka in seinem "Brief an den Vater" gelogen?

Gibt es in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts ein Stück Prosa, das den Leser stärker niederschmettert als Franz Kafkas "Brief an den Vater"? Für die wuchernde Kafka-Interpreten-Industrie war der Brief eine Fundgrube: Bei einer derart niedergeknüppelten Kindheit brauchte sich niemand zu wundern, dass Kafkas literarisches Werk zum Inbegriff des verlorenen, verzweifelten, in Zwangsvorstellungen eingekerkerten Menschen wurde.

Kafka betont in seiner Abrechnung, die er als 36-Jähriger verfasste, der Vater sei unschuldig. Und spricht ihn doch in jeder Zeile schuldig für die Verbiegungen im Charakter des Sohnes.

Der Vater habe sich zu wenig Zeit genommen für die Kinder (Kafka hatte zwei jüngere Schwestern); habe seine Sprösslinge nie ermuntert oder gelobt, sondern nur niedergedrückt, durch seine bloße Körperlichkeit, aber auch durch die geistige Oberherrschaft: "Du hattest Dich allein durch eigene Kraft so hoch hinaufgearbeitet, infolgedessen hattest Du unbeschränktes Vertrauen zu Deiner Meinung. [...] In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt." Die Anklageschrift des Sohnes ist lang: Vernichtung des Selbstvertrauens, Zerstörung des Familiensinns, Vermittlung eines nur oberflächlich gelebten Judentums, Geiz, schlechtes Beispiel im Umgang mit Untergebenen (Vater K. hatte einen Galanteriewaren-Großhandel in Prag aufgebaut); Ablehnung der schriftstellerischen Bemühungen des Sohnes; autoritäres Einschreiten gegen dessen Heiratspläne. [...] Geschrieben ist der Brief in einer kühlen, ein wenig pedantischen, aber messerscharfen Sprache. Abgeschickt hat ihn der Sohn nicht.

Zum erstenmal wurde er 1952 veröffentlicht. Wie die Geier stürzten sich die psychologisierenden Kafka-Deuter darauf.

Im Jahr 1892 - Franz Kafka war neun Jahre alt - trat der 14-jährige Frantisek Xaver Basik als Lehrbub in Vater Kafkas Geschäft ein. 1940 entschloss sich dieser Mensch, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Jener Teil des umfangreichen Berichts, der sich auf seine zweieinhalb Jahre bei den Kafkas bezieht, ist soeben zusammen mit Kafkas "Brief" zum erstenmal erschienen.

Neue Sichtweisen

Als der Tscheche sein Leben niederschrieb, wusste er nichts von dem weltliterarischen Rang des Sohnes seines einstigen Lehrherrn. Sein Bericht hat nichts von dem Brustton des "Ich habe ein Genie heranwachsen sehen". Frantisek Basik gab F. K. zwei Jahre lang Tschechisch-Stunden. Er wurde sogar zusammen mit den Kafka-Kindern in die Ferien mitgenommen. Unbefangen, anschaulich, bauernschlau schildert er das tägliche harte Arbeitsleben im Kafka-Geschäft. Vater Kafka kommt gut bis sehr gut weg. Streng, korrekt, fleißig bis zum Umfallen sei er gewesen. Der wirtschaftliche Aufstieg der Gründerzeit musste hart erarbeitet werden.

Und dann eine Schlüsselszene: Nach der Tschechisch-Stunde durfte der Lehrling mit dem "Frantik von den Kafkas" jeweils eine Stunde spazieren gehen. Einmal redeten sie davon, was das Schönste auf der Welt sei. Franz Kafka, 12 Jahre alt: "Das Schönste ist die Freundschaft!" Der 16-jährige Lehrling antwortet mit dem aus einem Buch aufgeschnappten Satz: "Es gibt im Menschenleben nichts Schöneres als das zufriedene Eheleben." F.K. drauf: "Wieso? Die Ehe sind Mama und Papa, was ist daran Schönes?" Und weiter: "Wie bekommt man überhaupt Kinder? Woher kommen die? Sag es mir!" Der 16-Jährige wusste es nicht. Der kleine Kafka muss den Inhalt des Gesprächs zuhause erwähnt haben, denn der Tschechisch-Unterricht fand ein abruptes Ende.

Bricht jetzt das Bild von Kafkas dräuendem Übervater zusammen? Schon Max Brod hatte Kafka junior in der Einschätzung seines Erzeuger-Monsters widersprochen. Was bedeuten die Aussagen des "interesselosen" Zeugen Basik? War F. K. ein Lügner, der seine eigenen Schwächen dem Vater zur Last legte?

Hermann Kafka hatte es zum angesehenen Prager Kaufmann gebracht. Seine Ängste, seine Unsicherheit verbarg er offenbar hinter einer polternden Art. Der Sohn schämte sich für den ungehobelten, groben Mann gegenüber seinen Freunden mit ihren gebildeten, vornehmen Vätern.

Diese Einsichten schmälern die Wucht des Briefes nicht. Sie relativieren die biografische Glaubwürdigkeit, nicht die subjektive. Der Innenraum des Menschen, die Seele, ist nicht mit den Kategorien "Richtig" und "Falsch" auslotbar.

Brief an den Vater

Von Franz Kafka

Mit einem unbekannten Bericht über Kafkas Vater als Lehrherr und anderen Materialien

Hg. von Hans-Gerd Koch. Nachw. v. Alena Wagnerova

Wagenbach Verlag, Berlin 2004

160 Seiten mit Abb., geb., e 20,10

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