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Dinah und der Dichter

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Den letzten Sommer vor seiner tödlichen Erkrankung verbrachte Franz Kafka größtenteils im Ostscebad Müritz, wo er die Bekanntschaft der jungen Pfleglinge eines Berliner Volksheimes machte, das dort sein Ferienlager hatte. Dieser Aufenthalt sollte entscheidend für die Neige dieses ebenso großen als kurzen Erdenlebens werden: Dora Dymant, von deren Dasein Kafka bis dahin noch nichts gewußt hatte, begegnete ihm hier als die Küchenleiterin dieses Ferienheimes; doch wurde er nicht durch Dora selbst, sondern durch ein sehr junges, sehr erholungsbedürftiges Berliner Stadtkind hier ingeführt, das in die Kafka-Literatur als „Dinah“ ingegangen ist, obwohl ihr wirklicher Name anders lautet. (Tila Rössler, die Heldin meiner Novelle „Dinah und der Dichter“.) Ich selbst verdanke dieser Dinah die genauesten Mitteilungen über den Eindruck, den der damals vierzigjährige Dichter auf sie und die übrigen Jugendlichen jenes Heihies machte. Es überrascht immer wieder, wenn man erfährt, wie jungenhaft und ausgelassen der überschlanke, hochgewachsene Mann mit dem schwarzen, ziemlich langen Haar und den tiefblauen Augen noch damals, so nahe seinem Ende, allen erschien; wie er bisweilen — wenn sein Zustand es erlaubte — mit ihnen spielte und herumtollte, wobei er seinen Neffen Felix und seine Nichte Gerti diesem Kreis zuzog. Er selbst wohnte damals mit seiner Schwester und deren Kindern, eben Gerti und Felix, in einem der großen Strandhotels von Müritz, das dem armen Berliner Lehrmädchen Dinah überaus vornehm erschien. Allerdings war gerade i h r Kafkas Name nicht so unbekannt, wie er es wahrscheinlich den Hotelgästen von Müritz war: dieses halbwüchsige, sehr sensible Kind — aus dem später eine Tänzerin wurde — war damals in der Buchhandlung Jurovics in Berlin C 2 angestellt und hatte mit eigenen Händen Kafkas bereits in Buchform vorliegende Erzählung „Der Heizer“ im Auslagenfenster ihres Buchgeschäftes zur Schau gestellt.

Natürlich war Dinah, wie jedes feinfühlige Mädchen dieses Alters, schon durch den Nimbus des Dichters gefangen genommen; doch die Wirkung, die das unendlich geduldige, ganz auf das „D u“ eingestellte Wesen des Dichters ausübte, muß an und für •ich übermächtig gewesen sein. Wie würde es sich sonst erklären, daß all diese Jugendlichen, die doch zumeist keine Zeile von ihm gelesen hatten, gänzlich in Kafkas Bann gerieten und seinen Besuch in ihrem Kreis, der nun immer häufiger wurde, als ein sie alte auszeichnendes Erlebnis von einmaliger Bedeutung empfanden? Kafka selbst war bereits durch Krankheit und Künstlerschaft seinem Elternhaus und dem Prager Milieu, aber auch einer beruflichen Bindung und selbst dem Freundeskreis daheim entwachsen und entfremdet. Und doch suchte er gerade damals aus innerstem Herzen Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Bindung. Hier, in dem Kreis dieser Jugendlichen, schien er etwas davon zu fühlen, zu finden — noch ehe er Dora Dymant getroffen hatte, die ihn bis zum Ende begleiten sollte. Dabei spielte Dinah, die selbst in ihrem Familienkreis tief unglücklich und daher für die verständnisvolle Güte dieses großen Menschen von einer beinahe fassungslosen Dankbarkeit und Liebe erfüllt war, eine unbewußte Mittlerrolle. Sie war es, auf die Kafka während einer Theateraufführung der Ferienkinder zuerst aufmerksam wurde und die er zu sich lud; die ihn bei seinem Strandkorb besuchen durfte, mit der er Gespräche voll der zartesten Einfühlung in die Leiden und Wirren dieser sehr verletzlichen Kinder- scele führte. Sie war es denn auch, die ihrerseits Kafka zuerst aufforderte, sie in dem Ferienlager zu besuchen und an den gemein-

sarhen Heimabenden teilzunehmen. Sie schenkte ihm ihr restloses Vertrauen, ihre ganze Seele. Und schließlich machte die Halbwüchsige den Dichter mit der damals vierundzwanzigjährigen Küchenleiterin Dora bekannt, freilich ohne auch nur zu vermuten, daß diese beiden Menschen einander etwas bedeuten könnten. Es ist vielmehr anzunehmen, daß ihr die Freundschaft Doras mit Franz Kafka erst viei später ins Bewußtsein trat; selbst noch nicht bei seinem ersten Besuch in Berlin, auf der Rückreise von Müritz, als er die kleine Dinah zu Schillers „Räuber“ ins Schauspielhaus führte („Hörst du? Siehst du? Franz heißt die Kanaille! ), sondern erst, als Dinah, von Kafka nach seiner Uebersiedlung in die Steglitzer Wohnung eingeladen, die Küchenieiterin Dora dort als Hausmütterpben antraf. Daß aber Dora keinesw’egs rfur Hausmütterchen allein war, erkannte die viel Jüngere, die Doras geistige und seelische Qualitäten noch nicht zu ermessen vermochte, wieder erst viel später. Es kostete sic tiefen Schmerz, viel Seelenqual und Ueberwindung, bis sie die ganze Wahrheit begriff. Doch als Dinah bald darnach durch eine Schicksalsfügung von bizzarrer Grausamkeit als erste von allen Berlinern den jähen Tod des verehrten Dichters erfuhr, da überdröhnte der rasante Schmerz um den Verlorenen jede etwa kleinliche, allzu subjektive Regung, so daß sie gleichsam über Nacht zum reifen Menschen heranwuchs.

Das ist in kurzen Worten der Inhalt des Erlebnisberichtes, den ich „Dinah“ verdanke und in der genannten Novelle verarbeitet habe, die indessen noch nicht im Druck erschienen ist. Dort ist im zweiten Kapitel der nachstehende Originalbrief Franz Kafkas an das junge Mädchen zum erstenmal wiedergegeben. Zum besseren Verständnis dieser Zeilen muß freilich noch die Episode mit der „rubinroten Schale“ erwähnt werden: Dinah und ihre gleichaltrige Freundin Sabine, kurz „Bine“ genannt, bewunderten eines Tages im einzigen Kaufhaus von Müritz eine große Konfektsehak au leuchtendem Rubinglas und Dinah meinte, sie würde weiß Gott was dafür geben, wenn sie diese Schale besitzen dürfte, worauf Bine lakonisch erklärte, was könne sie denn hergeben, da sie doch nichts besitze. In diesem Augenblick bemerkten die beiden Sechzehnjährigen erst, daß Kafka sich in dem Laden befand und wohl ihr Gespräch mitangehört hatte — und beschämt machten sie sich auf und davon. Und dann kam der Tag, da Dinah knapp vor ihrer Heimreise noch einmal den Dichter in seinem Hotel besuchte, um von dem großen Freund Abschied zu nehmen, während der strömende Regen draußen ihr als Sinnbild der eigenen Verzweiflung erschien. Als sie in der Hotelhalle auf Kafka wartet, wechselt der Klavierspieler plötzlich den Rhythmus seiner allzu leichten Melodien:

„Und nun erklingen genau jene Töne, die Dinahs todtrauriges Hera zu hören verlangt. Es ist ,Ases Tod“ von Grieg. Und das kleine Mädchen steht da, die schlanken Arme dicht an den mageren Leib gepreßt, das Gesicht zur Erde gesenkt. Ihre schmalen Schultern fallen demütig ab wie unter der Gewalt der Töne, die der Ausdruck ihres eigenen Schmerzes sind. So sieht sie der eintretende Dichter. Er sieht, wie die Trauer von ihr wie in langen, triefenden Regentropfen rinnt.

,Warte mal ein bißchen auf mich, ich bin gleich wieder da!“ Und hinaus läuft der große, schlanke Mensch wie ein kleiner junge, schüttelt das lange Haar aus der Stirn, springt über mehrere Stufen zugleich, eilt in sein Zimmer. Und dann kommt er zurück, viel langsamer, eine gewisse Behut- amkeit ist in seiner Bewegung, und er trägt ein großes Paket in den Händen, dessen Inhalt er vorsichtig aus Holzwolle und Seidenpapier herausschält. Es ist die unerreichbar schöne rubinrote Schale!“

Und Franz erklärt ihr, daß sie dieses Glas dereinst, nach altem jüdischen Brauch, bei ihrer Hochzeit zerschlagen solle.

Bald darnach erreicht das junge Lehrmädchen in Berlin ein ausführlicher Brief des Dichters, der an den Buchladen adressiert ist, auf Dinahs Wunsch, die ihn den neugierigen Augen ihrer Familie zu entziehen wünschte. Diesen Brief lassen wir nun im vollen Wortlaut folgen.

An Fräulein Dinah S., Berlin C 2, Buchladen Jurovics.

Ostseebad Müritz, 3. August 1923.

Meine liebe Dinah,

die Post hat Deine Briefe verwirrt, der zweite kam Mittag, der erste nachher am Abend, den Abendbrief bekam ich am Strand, Dora war dabei, wir hatten gerade ein wenig hebräisch in der Bibel gelesen, es war der erste sonnige Nachmittag seit langer Zeit, die Kinder lärmten, ich konnte nicht in meinen Strandkorb gehen, weil dort der Schwager eine vom Fußballspiel verletzte Zehe behandelte, so stand ich also und las Deinen Brief, während Felix über mich hinweg, um. mich herum, durch mich hindurch mit Steinen, einen Pfahl zu treffen versuchte, der hinter mir stand. Und doch hatte ich Ruhe, Deinen Brief zu lesen, mich zu freuen, daß Dir nach uns bange ist, auch froh zu sein, daß Du, wenigstens nach meinem augenblicklichen Gefühl, durch das Wegfahren bei weitem nicht so viel verloren hast, als Du glaubst. Es gefällt mir nicht mehr so gut hier wie früher; ich weiß nicht ganz genau, ob daran nur meine persönliche Müdigkeit, die Schlaflosigkeit und die Kopfschmerzen schuld sind, aber warum war das olles früher geringer? Vielleicht darf ich nicht zulange an einem Orte bleiben; es gibt Menschen, die sich ein Heimatgefühl nur erwerben können, wenn sie reisen. Es ist ja äußerlich alles wie es war, alle Menschen im Heim sind mir sehr lieb, viel lieber als ich es ihnen zu zeigen imstande bin, und besonders Dora, mit der ich am meisten beisammen bin, ist ein wunderbares Wesen, aber das Heim als solches ist mir nicht mehr so klar wie früher, eine sichtbare Kleinigkeit hat es mir ein wenig beschädigt, andere unsichtbare Kleinigkeiten arbeiten daran, es weiter zu beschädigen, als Gast, als Fremder, als ein müder Gast überdies, habe ich keine Möglichkeit zu sprechen, mir Klarheit zu verschaffen, und so falle ich ab. Bis jetzt war ich an jedem Abend dort, aber heute, trotzdem es der Frei-tagabend ist, werde ich — wie ich fürchte — nicht hingehen.

So bin ich gar nicht unzufrieden damit, daß meine Schwester (ihr Mann ist sie abholen gekommen) nicht erst am 10., sondern schon ein paar Tage früher wegfährt und ich werde, weil es bequemer und billiger ist und vor allem deshalb, weil ich allein hier nicht bleiben will, mit ihnen fahren. In Berlin werde ich, wenn ich nicht gar zu müde bin, ein oder zwei Tage bleiben und dann sehe ich Dich gewiß; aber auch wenn ich nicht bliebe, sondern gleich nach Marienbad zu meinen Eltern weiterfahren würde (um dann für einen Tag auch nach Karlsbad zu fahren und statt Dinah leider nur den Herrn Chef zu sehen) sehen wir einander bald, denn ich hoffe, bald wieder nach Berlin zu kommen.

Letzthin hatte ich Besuch hier, eine gute Freundin, die P., von der ich Dir erzählte. Sie kam gleichzeitig mit Frieda B., die sie von früher her kannte, und sie wohnte im Heim. Der Besuch ging schnell vorüber, sie war kaum einen Tag hier — aber von ihrer Selbstsicherheit, ihrer ruhigen Fröhlichkeit blieb eine Aufmunterung zurück. Du mußt sie einmal in Berlin kennenlernen.

Es ist sehr hübsch, daß Du „Schaale" schreibst, so wie man — glaube ich — im Jargon „Frage“. Ja, die Schale soll auch eine Frage an Dich sein, nämlich diese: „Du, Dinah, wann zerschlägst Du mich endlich?“

Um die Vase, die ich von Dir habe, muß ich manchmal mit Christi kämpfen, der dreijährigen Tochter unseres Wirtes, einer jener kleinen blonden, weißhäutigen, rotwangigen Blumen, wie sie hier in allen Häusern wachsen. Wann sie zu mir kommt, immer will sie sie haben. Unter dem Vorwand, ein Vogelnest bei mir auf dem Balkon ansehen zu wollen,

drängt sie iteh ein, kaum, aber ist sie beim Tisch, streckt sie schon die Hand nach der Vase; sie macht nicht viel Umstände, erklärt nicht viel, wiederholt nur immer streng: die Vase! die Vase! und besteht auf ihrem, guten Recht, denn da ihr die Weit gehört, warum nicht auch die Vase? Und die Vase fürchtet sich wohl vor der grausamen Kinderhand, aber sie muß sich nicht fürchten, ich werde sie immer verteidigen und niemals hergeben.

Grüß bitte alle meine Freunde vom Heim, besonders Bine, der ich schon längst geschrieben hätte, wenn ich nicht den Ehrgeiz besäße, ihr für ihren schönen Brief ausführlich zu danken und wenn ich in der Unruhe, in der ich jetzt bin, die Sammlung für diese Kraftanstrengung gefunden hätte.

Auch alle meine Verwandten lassen Dich vielmals grüßen, besonders die Kinder. Als Dein Mittagsbrief kam, entstand ein großer Streit zwischen Felix und Gerti, wer Deinen Brief früher lesen dürfte. Es war schwer zu entscheiden, für Felix sprach sein Alter und die Tatsache, daß er den Brief vom Briefträger gebracht hatte, Gerti führte für sich an, daß sie mit Dir noch besser befreundet gewesen sei als Felix. Leider entschied die Gewalt und Gerti ließ auf die ihr eigentümliche großartige Weise die Unterlippe hängen. Hast Du schon Grieg gehört? Das ist eigentlich die letzte ganz deutliche Erinnerung, die ich an Dich habe: wie Klavier gespielt wird, und Du, ein wenig gebeugt, ein wenig verregnet, dastehst und Dich vor der Musik demütigst. Mögest Du dieser Haltung immer fähig bleiben! Lebe recht wohl! Dein K.

Und die Stimme? Der Arzt? — Meine Adresse in Prag, wohin ich allerdings erst in etwa 14 Tagen kommen werde, ist: Altstädter Ring Nr. 6, III. Stock.

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