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Kafkas Botschaften an Mitteleuropa

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Ein schlanker Jüngling mit Fliege und Hut, ein Monstrum halb Tier halb Mensch, ein unscheinbarer Beamter oder die gesungenen Worte „Vielleicht kämpfte ich nicht genug!"... Kein Erkennungsdienst würde diese Daten mit einem einzigen Menschen in Zusammenhang bringen. Und doch geben sie Aufschlüsse über eine Person:

Franz Kafka.

Weil er mit seinem Werk den universellsten geistigen Ausdruck des mythischen Mitteleuropa gefunden habe, wählte ihn George Tabori zum Spiritus rektor des diesjährigen „Mittelfestes" in Cividale im italienischen Friaul- Julisch Venetien.

Das Verbindende in den Romanen, Erzählungen, Briefen und Aphorismen sollte neu interpretiert werden und gemäß der programmatischen Botschaft, „Mitteleuropa erlebt seine Wiedergebut im Theater", dort die Grundlage guter Beziehungen bilden. Nicht nur auf konventionellen Bühnen, auf Straßen, Plätzen, Innenhöfen, am Bahnhof und auch an den Ufern des Natisone der Vorübereilende zum Verweilen eingeladen.

Zu den ungewöhnlichsten Aufführungen gehörte die des Fassadentheaters des Theaterlabors München. Regisseur Manfred Killer erzählte an der Fassade des mittelalterlichen Stadttores Schönes aus dem „Tagebuch eines Schlaflosen": Von Rauchschwaden begleitet, schwebten Blumen für die Geliebte in die Obergeschoße und ließen Lichter aufblitzen. Damit der Absender nicht im Dunkeln bleibt, warf gleich darauf der Projektor „Kafkas Antlitz" an die Wand.

Killers Charakterisierung des Autors als „verhinderten Party-Löwen" teilte der ungarische Choreograph Zoltan Imre. Sein Szegedi-Ballett beschrieb zur Musik von Alban Berg und Bohuslav Martini mit bezaubernder Eleganz die nichtsdestotrotz deutlichen Beziehungsprobleme zwischen Sohn und Vater Kafka. Vieles von dem, was dem Jungen eine Last bedeutete, die Geschäftigkeit des elterlichen Betriebes oder sein schwieriges Verhältnis zur jüdischen Religion, ist in diesem „Traum über Kafka" in klaren Linien nachgezeichnet.

Kafka als Selbstbeschreibung

Wer sich die Frage stellt, wie die Künstler aus Italien, Slowenien, Kroatien, Österreich, Ungarn, der CSFR, Polen und Deutschland zu Geburtshelfern einer spannungsfreieren und von weniger Egoismen regierten Gemeinschaft werden können, wurde zur Beantwortung auf die Notwendigkeit einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Performances hingewiesen. George Tabori sagte bei einem der regelmäßigen Künstlertreffen: „Mit jeder Beschreibung Kafkas beschreiben wir uns selbst am besten." Schon deshalb trägt ein kodifiziertes Kafka-Verständnis nicht zur Wiedergeburt Mitteleuropas bei.

Kafka warf dem Vater vor, diktatorisch und gegenüber den eigenen Forderungen inkonsequent zu sein, anderen jede Freude zu vergällen, über unbekannte Dinge voreilig zu urteilen, Probleme mit anderen nicht auszudiskutieren, Angestellte unwürdig zu behandeln usw. Spiegelbildlich dazu verläuft das Leben des zum Insekt gewandelten Gregor Samsa. Sein Zustand ist eine Projektion der Gefühle und der Moral seiner Umgebung, die

ihn ausstößt und tötet, weil er nicht mehr den Nützlichkeitsvorstellungen entspricht. Das Teatro del Carretto aus Lucca zeigte in effektvollen Bildern auf der zweigeteilten Bühne, wo die guten und wo die schlechten Töne gespielt wurden. Hier ist Hausmusik nur eine Gelegenheit für den Herrn, der schlechtgestimmten Violinistin näherzurücken. Nebenan aber schwebt für Augenblicke ein Hauch von Harmonie und Freiheit durch den Raum.

Taboris Burgtheater-Inszenierung der „Unruhigen Träume" hebt sich davon leichtfüßiger, komischer, doch nicht minder überzeugend ab.

Kafkas Werk ist überwiegend tragisch und verlangt dem Zuseher mehr ab, als nur fremdsprachige Aufführungen über Kopfhörer mitzuverfol-gen. Da kann es vorkommen, daß sich in der Pause die Reihen lichten, was aber das HaDivadlo-Ensemble aus Brünn nicht hinderte, den „Prozeß" auf der kleinen, ständig dichtbesetzten Bühne fortzusetzen. Wenige Umgruppierungen der an ein Gefangenenlager erinnernden Kulissen genügten für den Weg des Josef K. vom Schlafzimmer zur Richtstätte. Arnost Goldflams Regie beließ sämtliche Figuren auf derselben Wahrnehmungsstufe. K. nicht als der alle Geschehnisse reflektierende Spiegel, sondern als selbst dem Unvorhersehbaren und seiner begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit unterwerfen. Ob hier eine unheimliche, totalitäre Macht mit einem Unschuldigen kämpft oder das tragische Ende einen innerpersönlichen Konflikt abschließt, bleib offen. Vielleicht hat Jozsef Attila mit einem seiner Kafka-Fragmente eine Deutung gefunden: „Das Wasser verdichtet sich, wird zu Eis und meine Schuld zu Tod."

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