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Literatur über Kafka

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FRANZ KAFKA, In Selbztzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Klaus Wagenbach, Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, 154 S. — FRANZ KAFKA — TRAGIK UND IRONIE. Von Walter H. Sokel, xur Struktur seiner Kunst. Albert-Langen-Georg-Müller-Verlag, München-Wien, 58 S. — FRANZ KAFKA, DER KÜNSTLER. Von Heinz Politzer, S.- Flscher-Verlag, 53 S. — EIN KAFKA-SYMPOSION. Jürgen Born, Ludwig Dietz, Malern Pasley, Paul Raa be, Klaus Wagenbach. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 18 S„ DM 18.80. - KAFKA UND DAS VATERPROBLEM. Von Josef Rattner. Ein Beitrag zum tiefenpsychologischen Problem der Kindererziehung, Interpretation von Kafkas „Briet an den Vater", Ernst-Reinhardt-Verla g, München-Basel 1984, 58 S., DM 4.80.

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FRANZ KAFKA, In Selbztzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Klaus Wagenbach, Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, 154 S. — FRANZ KAFKA — TRAGIK UND IRONIE. Von Walter H. Sokel, xur Struktur seiner Kunst. Albert-Langen-Georg-Müller-Verlag, München-Wien, 58 S. — FRANZ KAFKA, DER KÜNSTLER. Von Heinz Politzer, S.- Flscher-Verlag, 53 S. — EIN KAFKA-SYMPOSION. Jürgen Born, Ludwig Dietz, Malern Pasley, Paul Raa be, Klaus Wagenbach. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 18 S„ DM 18.80. - KAFKA UND DAS VATERPROBLEM. Von Josef Rattner. Ein Beitrag zum tiefenpsychologischen Problem der Kindererziehung, Interpretation von Kafkas „Briet an den Vater", Ernst-Reinhardt-Verla g, München-Basel 1984, 58 S., DM 4.80.

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Wie sich heute die Psychoanalyse mancherorts so wichtig nimmt, daß man angeblich ohne sie überhaupt nicht mehr die Möglichkeit hat, ein normaler Mensch zu sein, so können wir bei einer Literaturkritik im allgemeinen, bei Kafka im (besonderen ‘die Meinung feststellen, daß man Dichter gar nicht mehr lesen, geschweige denn über sie reden darf, ohne germanistische Seminare besucht oder Ohne sich vorher den Rat gewisser Kritiker geholt zu haben. Schreiben nun die Dichter für Universitäten oder gewisse Kritiker auserwählter Zeitungen? Oder für ein weit über sie hinausreichendes Publikum? Hat das Publikum ausschließlich die Aufgabe, den Absatz zu fördern und die Theaterkassen zu füllen? Höchstens bei den großen Alten, wie Schiller und Goethe, darf sich das Publikum noch etwas denken. Bei den modernen literarischen Texten hat es das Orakeln der Kritikersprüche zu hören und anzubeten. So stellt ein jüngst erschienener Artikel in den „Stimmen der Zeit“, der die bisherigen (großen Kafka-Interpretationen sondiert, fest, daß sie alle mehr oder minder verzerrende Mißverständnisse waren, weil sie angeblich die form- und strukturanalytischen Untersuchungen zu wenig beachteten, man hat also zu warten, was die Großkritiker erst künden werden. Am besten also, alle Dichter schickten ihre Werke erst einmal an jene Stellen, bevor sie sich ans Publikum wenden. Wenn die offiziellen Untersuchungen auch zeitraubend sein werden, sollen sie einstweilen darüber sterben, ihr Nachruhm wird dann um so größer sein. Doch das PUblikum ist leider unbelehrbar, es liest seine Dichter, läßt sich von ihnen ergreifen, ja entdeckt sie sogar, wie im Fall Kafkas, der erst nach Ubersee auswandem mußte, bevor er in seiner Heimat ankam, ja überhaupt erst gestattet wurde. Dabei ist er hinter dem Eisernen Vorhang noch früher gestattet als nach dem oben zitierten Artikel vor ihm. In beiden Fällen jedoch hat sich das Publikum unbeirrt seine Meinung gebildet. Denn der tief menschliche Inhalt (nicht das Thema!) jeder Dichtung spricht zu stark und zu deutlich als Anwalt des Menschen überall, wo man ihn unterdrückt, sei es mit östlichen oder westlichen Methoden. Gott sei Dank! Der tief menschliche Inhalt, der „die wesentliche Qualität jeglichen Kunstwerkes bleibt“ (W. S. Schlamm), der sicher nicht dasselbe ist wie sein Thema, der sich ‘gleicherweise und untrennbar in der Form der Dichtung kundtut (die nicht umgekehrt ästhetische Qualitäten zur allein gültigen Substanz isoliert), dieser tief menschliche Inhalt hat Kafka zu seinem Ruhm und zu seiner Gültigkeit verholten.

Schon der kleine Lebensabriß des Tascheribuches besorgt von dem soliden Kafka-Kenner und bewunderungswürdigen Ein-Mann-Verle- ger Klaus Wagenbach macht das gerade durch seine Beschränkung auf Selbstzeugnisse und Bilddokumente deutlich. Kafka selbst hielt sich fem von allen literarischen Zirkeln und Aktualitäten. Sein Leben galt dem Schreiben. Wenn er auch heute von verschiedenen Modernen, Surrealisten, Existentialist !, Textverfas- sem okkupiert wird, so gehört er absolut nicht zu ihnen. Er ist seine eigene Welt, sowohl der Form wie dem Inhalt, wenn man will auch dem Thema nach; die Welt einer realistisch geschilderten Phantastik, in der Klarheit des Satzbaus und seiner Aussage, geschult an Hebel und Kleist, bei wachsender Phantastik der Weltschau. Das ist seine Größe. Wageribach hat uns schon „eine Biographie seiner Jugend“ geschenkt und ‘greift im vorliegenden Taschenbuch auf den zweiten Band seiner Biographie voraus. Obwohl viele Dokumente während der nazistischen Zeitläufe verschwunden sind oder gar vernichtet wurden, ist es Wageribach doch gelungen, unveröffentlichte und uribekannte Schätze zu Tage zu fördern. Das zeichnet die kleine Monographie aus. Das von ihm herausgegebene Kaifka-Sympo- sion ist ein erstes Materialieribuch zu Leben und Werk Kafkas, das sich ausschließlich an Fakten hält. Philologen, die sich seit Jahren mit Kafka beschäftigten, unterstützen dieses Unternehmen. Eine Bibliographie, eine erste Datierung seiner Texte, die Erstdrucke, die Stimmen der ersten Kritiker Kafkas, erste, bisher unbekannte Arbeiten aus seiner Feder usw. bilden den Inhalt. Wageribach steuert izwei wesentliche

Beiträge dazu bei: Nachrichten über die wenig bekannte zweite Verlobte Kafkas, Julie Wohryzek, und über die Topographie des Schlosses aus dem Roman „Das Schloß“. So man sich ernstlich mit Kafka beschäftigen will, wird man an diesen Arbeiten nicht vorbeigehen können, ja man wird sie überhaupt an den Beginn seiner Studien zu Kafka stellen müssen.

Zu den ersten und ‘gültigsten Interpreten Kafkas zählt Heinz Politzer, dem wohl auch ein Vorrang vor Max Brod, welchem er in einer ausführlichen Stellungnahme (Seite 425) Gerechtigkeit widerfahren läßt, gebührt. Mit diesem teilte sich Politzer auch die Herausgabe der ersten gesammelten Werke, was ihm eine sehr genaue Kenntnis der Manuskripte Kafkas vermittelte. Den Kem der Arbeit bildet eine frühere Dissertation vor dem zweiten Weltkrieg. Die Kriegsjahre verbrachte er in Jerusalem „in langen Gesprächen mit Martin Buber“ mit vielen Notizen. In Wien entstand dann eine ausführliche Niederschrift, aus der sein englisches Buch (Parable and Paradox) und vier Fünftel der vorliegenden Arbeit entstanden sind, unter ständiger Auseinandersetzung mit der zur Flut angeschwollenen Kafka-Literatur. Politzer geht es vor allem darum, das Werk Kafkas., entgegen allen zeitgemäßen philosophischen, theologischen, psychoanalytischen Deutungen, seinem Wesen nach als ein literarisches Dokument erster Ordnung zu sehen. Also Untersuchungen der stilistischen Elemente und der künstlerischen Meisterschaft, deren Ziel das „geglückte Sprachfoild“ nur sein kann, und nicht weltanschauliche Fragen zu beantworten, die Kafka selbst offen gelassen hat. Kafka fühlt sich weder einem Glauben noch einem Unglauben verpflichtet. Kafka ist nach ihm sowohl in der Wahl der Thematik wie in der Art der Darstellung „ein Meister der offenen Form“. Alle Eindeutigkeiten löst er 'mit einer neuen Frage zu rätselhafter Mehrdeutigkeit auf. Darin besteht für Politzer ein Charakteristikum, das Kafka mit der modernen Literatur verbindet, durch das alle konventionellen Begriffe in einem gedanklichen und sprachlichen „Prozeß“ in Frage gestellt werden. Im Kem der Parabeln Kafkas steht das Paradox und nicht ein Lehrsatz. Und doch bedeutet das keinen Agnostizismus oder gar Nihilismus. Unter dem Hinweis auf eine Äußerung Wittgensteins, sieht Politzer jenseits aller Logik und Grammatik ein Unaussprechliches, das sich zeigt. „Kafkas Bilder zeigen sich. So zeigen sie das Unaussprechliche an“. Der Weg, der Wanderer auf ihm, seine Geschichte und sein Ziel bleiben namenlos. Alle herkömmlichen

oder zeitgemäßen Begrifflichkeiten versagen. Und das ist literarischer Rang und Trost zugleich. Denn hier liegt das charakteristische Humanum Kafkas und unserer Zeit, das sich in jener Anziehungskraft erweist, die mehr aus den Fragen, die Kafkas Bücher erheben, als in den Antworten, die sie enthalten, entspringt.

Auch Sokel stimmt Politzer zu, wenn er sagt, Kafka erklärt und analysiert nicht, sondern zeigt, keineswegs jedoch in der direkten Form des Bekenntnisses, sondern in traumhafter Verfremdung und gleichnishafter Verwandlung. So fehlen allgemeine Verbindlichkeiten, dafür steht die verblüffende Originalität scheinbarer Unverbindlichkeit. Doch setzt sich Sokel ausdrücklich von Politzer ab, wenn er bemerkt, daß Kafkas Gesamtwerk vor allem erzählt, und zwar etwas ganz Bestimmtes erzählt. Auch er bleibt mit Sprach- und Strukturanalysen immer hart am Text, sucht aus der spezifischen Eigenart des Erzählens den Gehalt des Erzählten zu fassen. Er nimmt ihn beim Wort und beim Detail, welche erzählerische Funktion besitzen sie, was sagen sie (und nicht woraufhin weisen sie). Sokel kommt zu zwei Enzähltypen Kafkas, eine frühere tragödienhaft strukturierte, expressionistische Erzählform (die ihn in Beziehung zu zeitgenössischen Erscheinungen setzt, wie Trakl, Heym) und eine spätere parabolische Erzählstruktur, die in einer aphoristischen Pointe oder einem ironischen Effekt mündet und seine einsame Größe ausmacht. Damit ist auch der Untertitel „Tragik und Ironie“ erhellt. Außerdem setzt sich Sokel mit den großen Interpreten Kafkas (Adorno, Anders, (Benjamin, Emrich, Martini, Politzer, Pongs, Buiber u. a.) auseinander, so daß man seine Urteile kritisch weiterbilden kann.

Daß Kafkas „Brief an den Vater“ eine zentrale Rolle in seinem Werk spielt, wird von allen vermerkt. Dazu die Novelle „Das Urteil“. Josef Rattner unterzieht sie daher einer tiefenpsychologischen Deutung. „Auch das größte Kunstwerk trägt den Stempel der Persönlichkeit seines Urhebers, ist Symbol seiner Befreiung aus Leiden, die zu wissen

wir durchaus berechtigt sind.“ Das Sympathische daran ist, daß Rattin- ger bewußt in seinen Grenzen bleibt, daß er auch nicht einseitig freudianisch fixiert ist und nachweist, daß man zum Beispiel mit dem berühmten Ödipus-Komplex im Falle Kafkas auf falsche Wege kommt. Abgesehen von einigen biographischen Ungenauigkeiten, die aber nicht wesentlich sind, stellt die Studie einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der Kafkaschen Seelenlage dar, darübeihinaus zum Problem der Kindererziehung in einer Zeit patriarchalischer Leitmotive, was ja wieder zum besseren Verständnis des Milieus führt, in dem Kafka aufgewachsen ist.

So vieldeutig die Kafka-Interpretationen auch sein mögen, sie einfach, sobald sie selbstverständlich ein gewisses notwendiges Niveau überragen, als verzerrende Mißverständnisse abzutun, ist unmöglich. Gerade die Größe echter Kunst erweist sich ja darin, daß sie unausdeutbar bleibt in ihrer Einmaligkeit. Die rätselhafte Mehrdeutigkeit fächert sich wie ein farbenreiches Spektrum um das einmalige Element. Da der Interpret selbst wieder eine einmalige Person vertritt, wird er nie mit anderen zur Deckung gebracht werden können, höchstens in den Fakten und Materialien, wie sie im Falle Kafkas Wagenbach zusammenträgt. Doch auch hier beginnen oft schon die Diskussionen, weil auch sie per modum recipientis registriert werden. Die Diskussion wie die Bereicherung, wie sie ein Künstler auslöst, wird daher nie aufhören. Der Mensch ist es, um den es geht, ‘beim Dichter und seinem Publikum, vom Liebhaber angefangen über den Philosophen bis zum Wissenschaftler. Wer und welche Methode kann es dann wagen, eine solche Erscheinung, eben auch wie sie Kafka ist, für sich allein zu usurpieren? Gerade die Erstarrung jeder Methodik und Systematik ist es, wenn sie dann gar noch „letztgültige“ Urteile oder Maßstäbe verkündet, die von einem Dichter wie Kafka in Frage gestellt wird. Dieses In-Frage-Stellen, diese Fragwürdigkeit ist ja das charakteristische Humanum Kafkas und allgemeiner unserer Zeit, weil im Stellen der Frage der Mensch erst das zu sein beginnt, was er eigentlich ist.

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