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Kafkas böses Böhmen

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Der Antisemitismus in Österreich und Deutschland wurde nach 1945 von zahlreichen Autoren untersucht und zu seinen Wurzeln zurückverfolgt. Die Geschichte des böhmischen Antisemitismus wurde vernachlässigt — obwohl er erhebliche Wirkungen auf die deutschnational-antisemitische Entwicklung in Wien ausübte. Der Münchner Christoph Stölzl, Literaturwissenschaftler und Soziologe, auf Grund seiner Arbeitsweise aber als Historiker durchaus ernst zu nehmen, fand hier ein riesiges, kaum beackertes Feld — ein wahrer Glückfall für einen Forscher.

Seine Untersuchung über „Kafkas böses Böhmen — Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden“ ist ein 148 Seiten dünnes Taschenbüchlein, und der geringe Umfang und die anspruchslose Aufmachung könnten leicht über die Bedeutung dieses Werkes hinwegtäuschen. Es ist eine der wenigen Publikationen, die in den letzten Jahren zur Geschichte des Antisemitismus in deutschen Landen nicht nur neue Interpretationen, sondern neue Fakten beizusteuern vermochten.

Wobei eine genauere Erforschung der Einflüsse, die der böhmische Antisemitismus im Gefolge — und als Folge — der Nationalitätenkon-flikte auf dem Gebiet der heutigen Tschechoslowakei auf das Erstarken des Antisemitismus in Wien hatte, durchaus zu neuen Interpretationen des Wiener Antisemitismus führen könnte. Jedenfalls wurde der Kontext zwischen nationalen und ökonomischen Konflikten und Minderheitenhaß und die auch psychologisch katastrophale Zwischen-den-Fron-ten-Stellung einer zahlenmäßig kleinen, aber ökonomisch wichtigen Minderheit noch selten so klar dargelegt wie hier.

Der außerordentlich reizvolle Kunstgriff dieser Arbeit besteht nun darin, daß eben diese Zwischen-den-Fronten-Stellung mit allen ihren verheerenden psychischen Auswirkungen an einer Person dargestellt wurde. Eine einmalige Chance für den Literaturwissenschaftler und Soziologen Stölzl, daß über die Person, in deren Leben und Werk alle krankmachenden, neurotisierenden Faktoren dieser Entwicklung wie in einem Brennpunkt zusammenlaufen, zwar über 10:000 Arbeiten geschrieben wurden, in der Fülle der germanistischen und individuell-biographischen Untersuchungen aber bisher der Zusammenhang zwischen der Geschichte des Individuums Franz Kafka und der Geschichte des Prager Judentums bisher zu kurz kam.

Stölzl, der sein Buch als „Sekundärliteratur zur Sekundärliteratur über Franz Kafka“ versteht, hält sich bei der Verifizierung am Kaf-ka'schen Werk zurück, aber man braucht kein Kafka-Spezialist zu sein, um die Zusammenhänge greifen zu können. Die „Strafkolonie“, von einem so hellsichtigen Mann wie Tucholsky noch 1920 eher vergangenen Zeiten zugeordnet, wird hier zur Vorausschau auf die Bestialität ebenso leidenschaftsloser wie pflichtbewußter Folterknechte — zur Prophe-tie auf kollektiver Erfahrungsbasis. Der „Prozeß“, für Max Brod noch in einer um die Todeszeit Kafkas abgegebenen Stellungnahme lediglich „der ewige Prozeß, den ein zart empfindender Mensch mit seinem Gewissen auszufechten hat“, wird vor dem Hintergrund nicht nur der individuellen Neurosegeschichte Kafkas, sondern der kollektiven Neurosengeschichte der böhmischen und Prager Juden in tiefere Schichten als bisher hinein entschlüsselbar.

Stölzls Arbeit ist demnach geeignet, auch die Kafka-Germanistik, die zeitweise zum Stillstand gekommen schien, zu neuen Ausgangspunkten zu führen. Sie ist für Literaturwissenschaftler so wichtig wie für die Geschichte des Antisemitismus und der deutschvölkischen Bewegung.

Die Grenzen des Autors werden dort sichtbar, wo er zwar, richtig als die eine Seite der Medaille, die zionistische Abkehr von der Urbanisierung als rückschrittlich einstuft, aber völlig verkennt, daß sich hier für einen erheblichen Teil der Verfolgten tatsächlich ein Ausweg erschloß. H.B.

KAFKAS BÖSES BÖHMEN — ZUR SOZIALGESCHICHTE EINES PRAGER JUDEN. Von Christoph Stölzl, edition text+kritik, München, 148 Seiten, öS 127.—.

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