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DIE KAISERSAGA, UTOPIA AUSTRIACA. Roman. Von Carl von Bö he im. Adam-Kraft-Verlag,

Augsburg 1960. 720 Seiten

Der Autor hat. einen utopischen Roman verfaßt, dessen Handlung nicht in der Zukunft spielt, sondern in die Vergangenheit verlegt wurde. Der Held des Buches ist ein angenommener, am 23. Juni 1866 geborener Sohn Kaiser Franz Josephs, der nach dem Selbstmord des Kronprinzen Rudolf Thronfolger wird. Kaiser Franz Joseph erreicht in diesem Roman nur ein Alter von 66 Jahren und stirbt am 21. November 1896. An diesem Tag beginnt die Regierungszeit Franz Stephans, in deren Verlauf er einen tiefgreifenden verfassungsmäßigen Umbau der alten Doppelmonarchie in einen Bundesstaat der verschiedenen Nationen, eine Kompromißlösung zwischen den Ideen Renners und Popovicis, durchführt. Die außenpolitische Gesamtsituation Österreichs wird durch Bereinigung des Verhältnisses zu Serbien, kluge Absprachen mit Frankreich und England, freundlichen Beziehungen zu Deutschland und letztlich — wenn auch mit gewichtigen Vorbehalten — zu Rußland weitgehend gebessert. Nur mit Italien kommt es zu einem lokalisierten Konflikt. Wir begegnen Dr. Karel Kramaf als k. u. k. Minister des Äußeren und des Allerhöchsten Hauses, er ist ein Garant vor jeglicher Russophobie, aber ebenso ein Vertreter der Überzeugung, daß nur die Großmacht Österreich die kleinen slawischen und nichtslawischen Völker des Donauraumes vor einer deutschen oder russischen Vorherrschaft bewahren kann.

Der Leser des Romans erlebt zahlreiche, bedeutende, hervorstechende, heitere und düstere Gestalten der österreichischen Geschichte, und nicht nur der österreichischen, sondern auch der europäischen Geschichte. Es wäre geradezu ein Zeitvertreib für die Uilaubstage eines Historikers, herauszusuchen, wie bei einzelnen Handlungen, Überlegungen und Gesprächen geschichtliche Tatsachen an die Phantasie des Dichters grenzen oder mit dieser verwoben sind. Der Autor macht seinem Namen von Böheim alle Ehre. Es wird im Buche öfters tschechisch gesprochen, mehr als in anderen Fremdsprachen, und die ganze Darstellung zeigt eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe und ein bemerkenswertes Einfühlungsvermögen in die Atmosphäre Prags, Böhmens und natürlich auch Wiens. Darüber hinaus verfügt der Verfasser über eine hervorragende Kenntnis der österreichischen, deutschen und europäischen Geschichte, er bietet eine Fülle von

Details, die nicht nur eine Vertrautheit mit der gesamten historischen Literatur, sondern auch Forschungsarbeiten in Archiven bedingen. Nur ein zünftiger Historiker konnte ein solches Buch schreiben. Vergeblich wird man aber eine historische Studie suchen, die unter dem Namen Carl von Böheim veröffentlicht wurde. Die Vermutung, daß der Name des Autors nur ein Pseudonym ist, liegt nahe, und das Rätselraten nach dem Verfasser macht das Buch um so interessanter.

Die Sympathien des Verfassers stehen, abgesehen von der Hauptfigur und deren unmittelbarer Umgebung, bei allen gesamtstaatlich denkenden und handelnden Persönlichkeiten. Gerade aus dem sozialistischen Lager vernimmt man etliche solcher Stimmen. Der utopische junge Kaiser versucht doch irgendwie das Lasallsche Konzept eines Bündnisses zwischen dem vierten Stand und den traditionellen Klassen zu verwirklichen. Schatten fallen daher auf die nationalliberale Bourgeoisie dies- und jenseits der Leitha. Die kleinbürgerliche Enge des deutsch-österreichischen Nationalismus wird sehr witzig karikiert, aber auch politische Unduldsamkeit und verbissener Chauvinismus anderer Völker werden mit humorvollen Beispielen dem Leser vor Augen geführt.

Der Held des Buches kann mit keiner der geschichtlichen Persönlichkeiten des Erzhauses verglichen werden. Anerkennend hervorzuheben ist, daß sein Bild nicht lesebuchartig idealisiert wird, sondern auch mit menschlichen Schwächen und Leidenschaften gezeichnet ist. Bei gewissen Stellen des Romans, die in die persönlich intime Sphäre des Lebens Franz Stephans hineinleuchten, zeigt der Autor nicht dieselbe Meisterhand wie zum Beispiel bei den erdachten Gesprächen. Bemerkenswert sind die Unterredungen zwischen Franz Stephan und Dr. Springer (Renner), Geheimrat Holstein und Bismarck, Wilhelm II. und Feldmarschall Graf Schlieffen, Iswolski und Professor Louis Eisenmann, Victor Adler und Friedrich Auster-litz und viele andere mehr.

Der Erfolg des Buches wird ein Maßstab für die öffentliche Meinung sein. Ist sie von den Instrumenten der Meinungsmache — auch deren Beherrschern von Poppert-Blowitz bis Moritz Benedikt begegnen wir in diesem Roman — schon so verbildet worden, daß jedes Lernen aus der Vergangenheit als rückschrittlich abgelehnt wird und jede Abweichung vom nationalstaatlichen Denken kein Verständnis findet? Werden nur noch jene Menschen, die sich zu Altösterreich noch eine innere, gefühlsmäßige Bindung bewahrt haben und sich such an anekdotischen und biographischen Einzelheiten erfreuen können, dieses Buch lesen? Oder könnte dieses Buch ein Ausgangspunkt werden für Überlegungen, Gespräche und Diskussionen, die sich mit neuen Formen des zwischenstaatlichen Lebens in Europa befassen könnten? Wir müssen aber zur Wirklichkeit zurückkehren: Gerade in diesem Buch wird mehrmals dargelegt, die Möglichkeit, Europas Schicksal noch zu ändern, gab es noch in der Mitte des letzten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts; alle Chancen, die damals noch offen waren, sind heute schon längst verspielt. Und trotzdem, wenn es damals noch Auswege gegeben hat, müssen sie doch auch heute zu finden sein. Daß ein Roman uns zu solchen Überlegungen verführt, zeigt nur seine Tiefe und seine Bedeutung!

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