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Kafkas Verlobung

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DER ANDERE PROZESS. Kafkas Briefe an Felice. Von Elias Canetti Nr. 23 der „Reihe Hanser“. Carl- Hanser-Verlag, München. 128 Seiten, kart., Preis 5.80 DM.

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DER ANDERE PROZESS. Kafkas Briefe an Felice. Von Elias Canetti Nr. 23 der „Reihe Hanser“. Carl- Hanser-Verlag, München. 128 Seiten, kart., Preis 5.80 DM.

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Die Liebe als Inspiration der Dichtung ist uralt und durch unzählige Beispiele belegt. Für Franz Kafka erweist sie sich als tragische Muse in einer in der Literaturgeschichte einzig dastehenden Weise. Die pathologische Sensibilität des Dichters identifizierte den Anspruch des liebenden Du mit dem Anspruch der totalen Macht. Seine Natur war blind vor der Bereicherung, die aus dem Sich- verschenken des Liebenden in den Spender zurückströmt Er sah in der Diebesbegegnung nur den Angriff auf seine Freiheit Seine Geliebte und Verlobte Felice Bauer freilich war wahrscheinlich zu sehr und für den Dichter allzu aufdringlich von den Vorstellungen einer bürgerlichen Ehe besessen. Ihre verständliche weibliche Sehnsucht nach Nestbau, ihre Vorliebe für repräsentative, schwere Möbel, ihre gut gemeinte Diesseitigkeit, wirkt auf Kafka wie ein Alptraum. So führte diese konfliktreiche Begegnung schließlich zur Ausformung des in Kafka bereits angelegten Motivs, mit dem er zum Darsteller des modernen Bewußtseins werden sollte: Gleichgültigkeit und Angst.

Elias Canetti widmet bezeichnenderweise die Leseerfahrung mit Kafkas Briefen und dem Roman „Der Prozeß“ seiner Gattin Veza Canetti. Das wirkt wie die Absicherung einer verwandten Seele vor dem Antritt eines Abenteuers.

Das Buch ist die geniale Interpretation eines Dichters durch einen Dichter. Es gehört zwar thematisch zur Kafka-Sekundärliteratur, ist aber selbst ein Kunstwerk, an das sich eine weitere Interpretation anschließen könnte.

Canetti erkennt den Anlaß zur Entstehung des „Prozeß“ in einer peinlichen Gegenüberstellung, die Kafka mit seiner Braut Felice in Berlin erlebte. Er war dazu „vorgeladen“ worden. Die Szene, an der auch Felices Verwandte teilnahmen, führte zur Auflösung des Verlöbnisses. Kafkas Beziehung zu Felice war damit noch nicht zu Ende. Der Briefwechsel quält sich weiter hin. Der Dichter trifft seine Exbraut wieder. In Marienbad kommt es zur Romanze, der die Ernüchterung folgt. Die offen ausbrechende Tuberkulose dient als Vorwand für den endgültigen Schluß. Alle diese Episoden werfen weder ein gutes Licht auf Kafkas Charakter noch auf die Diskretion der Felice Bauer, die als „liebste Geschäftsfrau“ nicht zögert, die Briefe später regelrecht zu verkaufen. Eine zweite Frau, Grete Bloch, spielt in der ganzen Geschichte die undurchsichtige Rolle der verstehenden Freundin.

Nicht nur zeitlich, sondern auch in der Schilderung von Interieurs und

Personen ergeben sich Parallelen zum Roman „Der Prozeß“. Die Bedrohung und Zerstörung der Reiche und Gesellschaften im Ersten Weltkrieg, die bisher als Hintergrund des „Prozeß“ ebenso angenommen wurde wie Kafkas Unbehaustsein in der eigenen Familie und am Arbeitsplatz in der Arbeiterunfallversicherung, spielen — nach Ansicht Canettis — nur eine sekundäre Rolle. In der Diskussion hat darüber nun die Quellengeschichte das Wort Ihr Urteil, wie immer es ausfallen möge, kann allerdings den Formwert der Studie Canettis nicht treffen. Der Stil der genauen Beobachtung, des reflektierenden Arguments, der subtilen Psychologie verleiht dieser Sekundärdichtung einen hohen eigenen Rang.

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