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Der Stimmenhörer und Todesfeind

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Ganz anders als Thomas Bernhard, doch ebenso unermüdlich schrieb Elias Canetti ein Leben lang gegen den Tod an. Am 14. August ist der Literatur-Nobelpreisträger von 1981 drei Wochen nach seinem 89. Geburtstag in seiner Wahlheimat Zürich sanft entschlafen.

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Ganz anders als Thomas Bernhard, doch ebenso unermüdlich schrieb Elias Canetti ein Leben lang gegen den Tod an. Am 14. August ist der Literatur-Nobelpreisträger von 1981 drei Wochen nach seinem 89. Geburtstag in seiner Wahlheimat Zürich sanft entschlafen.

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Der Ohrenzeuge bemüht sich nicht hinzusehen, dafür hört er um so besser. Er kommt, bleibt stehen, drückt sich unbemerkt in eine Ecke, schaut in ein Buch oder in eine Auslage, hört, was es zu hören gibt und entfernt sich unberührt und abwesend.“ Der „Ohrenzeuge“ der Literatur, Elias Canetti, hat genug gehört und seine Ohren, die für so vieles in diesem Jahrhundert Zeuge waren, für immer verschlossen. Damit ist ein Dichter abberufen worden, für den „Der Beruf des Dichters“ (so der Titel seiner „Münchner Rede“, 1976) tatsächlich Berufung war, Berufung dazu, keinesfalls „die Menschheit dem Tode auszuliefern“. Die Mächte des Todes hörte Canetti von den zwanziger Jahren an wachsen, und er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, sie zu bekämpfen.

Diesem Kampf diente nicht nur über 20 Jahre (von zirka 1940 bis 1960) die Arbeit an seinem welterklärenden geschichtsphilosophischen Hauptwerk „Masse und Macht“, sondern im Grunde seines ganzen Werkes. Sein wesentlichstes Instrument dabei war das Hören. Wie er zum Hörer wurde, schildert Canetti im zweiten Teil seiner dreiteiligen Autobiographie („Die Fackel im Ohr“, 1980). Im Kapitel „Die Schule des Hörens“ berichtet er von seinen regelmäßigen Besuchen der Vorlesungen von Karl Kraus: „Er war ein Meister darin, Menschen in ihren eigenen Worten zu verklagen“. Dort lernte er also das kennen, was er später „akustische Masken“ genannt hat, Redeweisen von Menschen, mit denen sie sich maskieren und die Karl Kraus durch seine Art des Lesens demaskierte. Ohne diese Erfahrung wären Canettis Stücke „Hochzeit“ (geschrieben 1932) und „Komödie der Eitelkeit“ (geschrieben 1933/34) undenkbar. Im dritten Teil seiner Autobiographie („Das Augenspiel“ 1985) schrieb er über die Figuren seiner Stücke, daß jede „durch Wortwahl, Tonfall, Rhythmus streng gegen alle anderen abgesetzt“ worden waren und daß es „keine Notenschrift für Dramen gab, in der sich das festhalten ließ“. Diese Stücke sind deshalb mindestens ebenso sehr Hör- als Schauspiele.

Doch nicht nur Karl Kraus1 Stimme, auch das Gekreische der Schwalben im Garten der Wohnung in Wien-Hacking, in der Canetti die zweite Hälfte der zwanziger Jahre verbrachte, gehörten zu des Dichters prägenden Klängen: „Diese Laute ermüdeten mich trotz ihrer Wiederholung nie“. Weitere akustische Eindrücke, die ein Ansatzpunkt für seine Analyse des Verhältnisses zwischen der Masse und der Macht waren, drangen von dem am gegenüberliegenden Ufer des Wien-Flusses gelegenen Rapid-Platz an sein Ohr. Die erst allmählich zu identifizierenden „Schlachtrufe“ der Fußball-Fans vermittelten ihm „ein Gefühl für das, was ich später als Doppel-Masse begriff und zu schildern versuchte“.

PRÄGENDE „WIENER JAHRE“

In diese „Wiener Jahre“ fällt auch das für Canetti vielleicht einschneidendste historische Ereignis: Der 15. Juli 1927, an dem Wiener Arbeiter wegen eines Fehlurteils den Justizpalast in Brand steckten. Canetti hatte sich einem der Protestzüge der Arbeiter angeschlossen und alles miterlebt: „Von den Erkenntnissen, die in das Buch über die Masse eingegangen sind, verdanke ich einige der wichtigsten diesem Tag“. An diesem Tag erlebte er nämlich die Untrennbarkeit der Begriffe Masse und vor allem Macht mit dem des Todes. 90 Menschen blieben aufgrund des Schießbefehls der Polizei buchstäblich auf der Strecke. Daraus schöpfte Canetti später die Erkenntnis, daß Macht immer etwas mit dem Drang (andere) zu überleben zu tun hat. Zusammenfassend schrieb er dazu im Essay „Macht und Überleben“ von 1962, daß das Gefühl der Macht seine Wurzel im gehäuften Überleben hat. Weiters entdeckte er, daß es keines Führers bedarf, damit eine Massenbewegung entsteht.

Unter diesem Eindruck entstand nicht nur „Mässe und Macht“, sondern auch das literarische Hauptwerk „die Blendung“ (1930/31) und das bereits erwähnte Drama „Hochzeit“. Alle drei sind auch als Widerlegung von Sigmund Freuds Anwendung der Psychoanalyse auf die Massenpsychologie zu lesen. Über die Entstehung des literarisch so innovativen Romans „Die Blendung“ kann man in der Essaysammlung „Das Gewissen der Worte“ (1976) folgendes nachlesen: „In einer Seitenstraße (des Justizpalastes, Anm.) …stand ein Mann mit hochgeworfenen Armen, der überm Kopf verzweifelt die Hände zusammenschlug und ein übers andere Mal jammernd rief: ,Die Akten verbrennen! Die ganzen Akten!1“ Dieser wurde das Vorbild zum Helden des Romans.

Diese wenigen Schlaglichter mögen genügen, um zu zeigen, wie prägend diese „Wiener Jahre“ für den vor allem durch seine Mutter mit der deutschen Sprache verbundenen, keineswegs jedoch mit dieser Sprache ‘ aufgewachsenen Chemie-Studenten, der 1929 promovierte, waren. Diese Tatsache mag es rechtfertigen, den Sohn jüdischer Einwanderer aus Spanien mit Österreich in Zusammenhang zu bringen. Die Geburt am 25. Juli 1905 im bulgarischen und seinerzeit zu Österreich- Ungarn gehörendem Städtchen Rustschuk reicht nämlich nicht aus, um diesen europäischen Geist einem Staat dieses Kontinents zuzuordnen. Die Themen jedoch, die sein Lebenswerk beherrschen, die Vehe menz, mit der er es abehnte, Österreicher zu sein, sowie der Einfluß seiner großartigen, in Wien geborenen ersten Frau Veza Taubner- Calderon, erlauben es, den Literatur- Nobelpreisträger von 1981 ein Stück weit für Österreich zu reklamieren.

Der Einfluß, den die 1934 zu Elias Canettis Frau gewordene und 1963 verstorbene Veza auf ihn ausübte, ist von ihm nicht nur dadurch gewürdigt worden, daß er ihr die meisten seiner Bücher widmete, sondern auch durch die späte (ab 1990) Herausgabe ihrer literarischen Arbeiten, die beweisen, daß Elias Canetti viel von ihr, zum Beispiel ihre sozialkritische Sichtweise, gelernt hat.

GEGEN DIE SCHRIFTKULTUR

1938 emigrierten die Canettis nach London, nach dem Tod Vežas übersiedelte er nach Zürich, wo er nun beerdigt wurde. Dazwischen liegt die erwähnenswerte Reise nach Marrakesch (1954), über die er in dem Bändchen „Die Stimmen von Marrakesch“ berichtete. Erwähnenswert deshalb, weil diese Skizzen vielleicht den besten Einstieg in das Werk Canettis bieten. Bei der Schilderung der arabischen Märchenerzähler äußert er sich dort wieder charakteristisch über den Beruf des Dichters: „Unter den Menschen unserer Zonen, die der Literatur leben, habe ich mich selten wohl gefühlt. Ich habe sie verachtet, weil ich etwas an mir selbst verachte, ich glaube, dieses Etwas ist das Papier. Hier fand ich mich plötzlich unter Dichtern, zu denen ich aufsehen konnte, weil es nie ein Wort von ihnen zu lesen gab.“ Dieser Satz allein widerlegt Marcel Reich- Ranickis Urteil über Canetti, dem er Feierlichkeit vorwarf, ohne Spur von Humor, Ironie und Selbstkritik. Ein Satz aus dem autobiographischen Band „Die Fackel im Ohr“ scheint mir ein Vermächtnis zu sein: „Die Achtung vor Menschen beginnt damit, daß man sich nicht über ihre Worte hinwegsetzt.“

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